1.
Na klasse, total verschwitzt, dachte sich Natalie, als sie gerade noch rechtzeitig in die U-Bahn hechtete. Obwohl sie ihre langen, blonden Haare hochgebunden hatte, war ihr Rücken klitschnass und begann, sich an dem altmodischen Rückenpolster abzuschmieren. Natalie konnte mit jeder Berührung spüren, dass sie festklebte. Die Vorstellung daran, welche Rücken heute schon alles an diesem Platz Kontakt hatten, verursachte einen leichten Würgereiz.
Zu ihrer Erleichterung war die U-Bahn während den Sommerferien immer angenehm leer. Körperkontakt zu fremden Menschen wollte sie hier unbedingt vermeiden. Ihre sportliche Umhängetasche, die heute besonders gut zu ihrem Outfit passte, lag neben ihr und quoll über vor kopierter Unterlagen. An schönen Sommertagen wie diesen war ihr das Studium egal. Es war immer noch genug Zeit für den Bachelor, wenn es regnete. Natalie ging in ihrem Kopf den Plan durch. Sie würde noch schnell duschen müssen und dann mit einem frischen Top zu ihrem Date gehen. Sie gestand sich ein, dass Tom sie schon gut um den Finger gewickelt hatte. Er hat so etwas Sensibles an sich, obwohl er eher der sportliche Typ war. Natalies Clique hat sich über sie lustig gemacht, weil sie sich einen Mann in Uniform geangelt hat. Dabei hatte er gerade erst den Einstellungstest bestanden. Polizisten sollen ja angeblich besonders treu sein. Sie blätterte auf ihrem Smartphone die Selfies durch, die sie bei den letzten drei Dates mit ihm gemacht hatte und geriet ein wenig ins Schwelgen.
Der Gestank von kaltem Rauch riss sie aus ihren Gedanken. Sie schaute auf. Ihr gegenüber saß ein älterer Mann. Er war extrem dürr, hatte ein eingefallenes Gesicht und die Haut sah trocken und rissig aus. Durch seine Brille starrten trübe Augen auf seine Füße. Wahrscheinlich war er Raucher. Irgendwie creepy. Natalie war erleichtert, als er an der nächsten Haltestelle ausstieg. Der Geruch hing jedoch weiter in der Luft. Die Sitzbank gegenüber war nun leer und sie sah eine verbrannte Stelle im Sitzpolster. So cool, Teenager mit Feuerzeugen. Sie rollte mit den Augen.
Endlich kam ihre Haltestelle und sie trat wieder hinaus in die aufgeheizte Sommerluft. Immer noch keine Wolke am Himmel. Sie setzte sich ihre Lieblingssonnenbrille wieder auf die Nase und machte sich auf den Weg ins Wohnheim.
Eine erfrischende Dusche später und noch ein verführerisches, leichtes Make-Up aufgetragen zog sie sich ihr heißestes Dessous an. Dann verpackte sie das dann in einem tief ausgeschnittenen, roten Top und Jeans-Shorts. Die Sonne stand nun tiefer und Natalie hoffte, dass die erdrückende Hitze bald nachließ. In ihren neuen Sneakern schlenderte sie den Weg entlang zum Park.
Tom wartete am Eiswagen. Jetzt ging es ums Ganze. So wie sie es vor dem Spiegel geübt hatte. Sie wartete, bis er sie entdeckte, dann fegte sie ihre offenen Haare mit einer eleganten Geste aus dem Gesicht. Als sie endlich vor ihm stand, lächelte sie ihn strahlend an. Seinem Blick zufolge hatte ihr Auftritt seine Wirkung nicht verfehlt. Seine blauen Augen waren weit aufgerissen. Über seinem athletischen Oberkörper trug er ein locker sitzendes Hemd, die oberen beiden Knöpfe offen. Er war gut gebräunt und frisch rasiert.
Sie holten sich beide ein Eis und setzten sich im Schatten eines Baumes auf eine Bank. Es dauerte nicht lange, bis sie in seinem Arm lag und sie sich gegenseitig sanft berührten. Sie war nicht mehr Herrin ihrer Gedanken. Endlich küsste er sie. Sie schmolz in seinen starken Armen dahin. Plötzlich war da ein komischer Geruch. Rauchig. Abstoßend. Ihr Blick wanderte auf den Weg vor der Bank und sie sah in einiger Entfernung einen klapprigen, alten Mann im Anzug. Konnte das… Nein. Sie schüttelte den Gedanken ab. Der Asphalt war so warm, dass die Luft flimmerte.
“Hey, alles ok?” Der Satz riss sie aus ihren Gedanken. Tom sah sie verwirrt an.
“Ja… alles gut. Ich habe nur gerade etwas echt Widerliches gerochen.”
“Äh, sorry. Das Aftershave ist neu.” Tom zuckte mit den Achseln.
Natalie platzte vor Lachen. “Nicht du, Dummkopf. Der Alte da drüben.”
Tom stimmte zögerlich mit ein und sie lachten gemeinsam, bis Natalie Seitenstechen hatte. Als sie verstummten, sahen sie sich tief in die Augen. Natalie legte die Arme um ihn. Gemeinsam verließen sie den Park. Tom wohnte in der Nähe.
Sie rannten die Treppen in Toms Altbauhaus nach oben. Seine Wohnung war im zweiten Stock. Natalie konnte es kaum aushalten und zog ihn alle paar Stufen zu sich und drückte ihre Lippen auf seine. Ihre Hände wanderten an seinem Körper nach unten. Sie bemerkte den Nachbarn, der breit grinsend nickte, aber sie ignorierte ihn. Tom zog sie weiter vor seine Tür, sperrte auf und beide stolperten ins Wohnzimmer. Ihr rotes Top landete direkt auf dem Boden, sein T-Shirt traf mit einem gekonnten Wurf einen Stuhl. Im Bett angekommen, flog ein Stück Stoff nach dem anderen davon. “Wow, du bist echt umwerfend.” Tom nahm sich die Zeit, sie in ihrem schwarzen Dessous zu bewundern.
Natalie verlor nun endgültig die Geduld und stürzte sich auf ihn. Geübt streifte sie BH und Höschen ab. Endlich passierte es. Sie hatte es schon beim ersten Date gewollt, doch hatte sie sich bisher gezügelt. Das war nun vorbei. Sie drückte ihn in die Kissen und rieb ihren nackten Körper langsam über seinen hinweg nach unten. Er zeigte ihr deutlich, wie sehr er es genoss und sie streifte mit ihrer Zunge sanft über sein Glied, um ihn weiter anzuheizen. Natalie spielte neckisch mit seiner Erregung, bis auch sie es nicht mehr aushielt und auf ihn stieg.
Rhythmisch bewegte sie ihre Hüften, während er auf dem Rücken lag. Ihr entflohen leise Seufzer, als er sie an der Taille packte und härtere Bewegungen forderte. Sie spürte Wärme wie Wellen durch ihren Körper ziehen. Sie beugte sich herunter und küsste ihn gierig. Seine Hände erkundeten ausgiebig ihren Körper, spielten sanft an empfindlichen Stellen. Spielerisch biss sie in seine Unterlippe. Natalie schloss die Augen. Sie wollte gerade nichts sehen, nur spüren. Nun stimmte auch Tom geräuschvoll in ihr Stöhnen ein. Sein Atem ging gepresst. Er zitterte leicht und drückte ihre Oberschenkel kräftig. Oh nein, so einfach kommst du mir nicht davon. Sie verlangsamte ihre Bewegungen und lächelte schelmisch. Dann beugte sie sich erneut hinab zu seinem Gesicht und spitzte die Lippen. Für einen Moment wurde ihr schwindelig, doch sie fing sich schnell wieder. Leise kicherte sie: “Ist das heiß hier drinnen oder bin nur ich das?”
Sie hörte sein erregtes Schnaufen, spürte den Hauch auf ihrem verschwitzten Gesicht, doch fand seine Lippen nicht. Ihre rechte Hand legte sie auf seinen Kopf, um ihn festzuhalten. Die linke Hand griff seine, die er nun doch etwas zu fest in ihr Bein krallte. “Ich will deine Lippen schmecken. Komm her!” Tom reagierte nicht auf ihr Flüstern. Mürrisch öffnete Natalie die Augen. Die Luft im Zimmer flimmerte heftig. An der Fensterscheibe sammelte sich Kondenswasser. Tom lag in einer Schweißlache auf dem Rücken, doch sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt. “Was hast du? Tom? TOM?” Sie rüttelte ihn an den Schultern. Seine Haut glühte. “Hast du Fieber?” Er stöhnte nur krampfhaft.
Natalie stieg von ihm herunter und versuchte weiter, seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Panisch zog sie die Bettdecke an sich, um sich zu bedecken und begann, ihre Tasche in der fremden Wohnung zu suchen. “Scheiße, wo ist mein Handy? Scheiße, scheiße, scheiße!” Gefunden. Sie rannte immer noch die Decke vor sich haltend zurück ins Schlafzimmer und bemühte sich, die Nummer auf dem Touchscreen zu drücken. Nass vor lauter Schweiß. Sie rubbelte die Flüssigkeit an der Bettdecke ab und tippte hastig 1 – 1 – 2.
“Notruf, guten Tag”, meldete sich eine weibliche Stimme.
“Hallo, mein Freund ist krank. Er verglüht richtig.” Ihr Herz pochte.
“Ganz ruhig. Wo befinden Sie sich gerade?`”
“Äh ja, München, Rappoltsteiner Straße, Hausnummer….äh…ich glaube 17. Zweite Etage.”
“Was ist genau passiert?” Die Frau sprach ruhig und langsam.
“Wir… er… fühlt sich heiß an und hat Schmerzen. Er antwortet mir nicht.”
“Er fühlt sich heiß an? Sind Vorerkrankungen bekannt?”
“Nein, ich glaube nicht.”
“Ok, der Krankenwagen ist unterwegs. Können Sie den Sanitätern zeigen, wo sie hin müssen?”
“Ja, mache ich. Bitte schnell!”
Natalie legte das Smartphone mit zitternden Händen auf den Nachttisch und wandte sich wieder Tom zu. Er krümmte sich mittlerweile und hielt sich die Brust. Sein Stöhnen baute sich zu einem lauten Schrei auf. Natalie griff seinen Arm. “Tom, Tom, was hast du nur?” Der Krankenwagen würde bald kommen. Sie sollte sich bis dahin etwas angezogen haben. Schnell sammelte sie alles auf. Wieder an Toms Seite bemerkte sie, dass die Luft immer noch flimmerte.Sie griff an die Heizung. Kalt. Und doch fühlte es sich an wie in der Sauna. Toms Haut war rot und klebrig und er hielt sich immer noch die Brust. Sie musste sehen, was er da hielt. Natalie drehte ihn auf den Rücken und zog mit Kraft seine verkrampften Arme zur Seite.
Die Stelle an der Brust, in die er seine Fingernägel grub, strahlte ein leichtes Glühen aus. “Was ist das für eine Scheiße?!” Die Haut warf Blasen, platzte unter ihren Augen auf. Toms Schreie wurden lauter. Natalie konnte die Hitze über sich hinweg treiben spüren. Es wurde immer heißer. Feuer! Auf seiner Brust brannte es. Im ganzen Raum um sie herum schossen plötzlich Flammen in die Höhe und hüllten die Wände in ein Inferno. Raus hier! Natalie zitterte unkontrolliert und packte Toms rechten Arm und sein rechtes Bein. Sie zog hektisch an ihm, seine Haut war kochend heiß. Schließlich schaffte sie es, ihn auf die Seite zu drehen, bevor der Schmerz zu stark wurde. Die feinen Haare auf ihren Armen krümmten sich. Die Tür stand nun in Flammen, sogar der Türrahmen. Das Bett war voll und ganz vom Feuer umschlungen. Sie sammelte noch einmal all ihren Mut und griff durch das heiße Leuchten nach Tom. Zu heiß. Es geht nicht. Es geht nicht.
Die Angst überwältigte sie. Sie musste fliehen. Ihre Schreie hallten durch das Treppenhaus. Rauch sammelte sich schnell an der Decke. Es rannten bereits Leute nach draußen. Hinter ihr hörte sie Glas klirren. Sie lief die Treppen nach unten. Ihre Gedanken rasten wild durcheinander. Ein lautes Fauchen und eine Welle funkenträchtiger Luft fegten an ihr vorbei. Hinter ihr wurden mehrere Schreie laut. Die Haustür stand bereits offen. Unter freiem Himmel lief sie zu einer Gruppe, die sich bereits auf der Straße gesammelt hatte.
Die Flammen züngelten aus einer Reihe Fenster in der zweiten Etage. Das musste Toms Wohnung sein. Auch weiter oben breitete sich das Feuer in den Wohnungen und sogar am Dach aus. Natalie schluchzte und sank auf den Boden. Ihr fehlte die Kraft zu stehen. Sie bemerkte nicht, dass zuerst ein Krankenwagen und dann die Feuerwehr vor das Haus fuhr. Feuerwehrleute rollten Schläuche aus. Einer von ihnen stützte eine alte Frau. Jemand kniete sich vor ihr auf den Boden und blickte ihr ins Gesicht. Sie sah nur verschwommen und ihre Augen schmerzten. Ein Handschuh berührte vorsichtig ihre Wange. Ein grelles Licht schien ihr ins Gesicht. Mit ihr wurde gesprochen, doch sie konnte es nicht verstehen. Sie hörte nur ein laut grollendes Rauschen in ihren Ohren. Man half ihr auf und führte sie zu einem Krankenwagen. Dort lief kühles Wasser über ihre Hände. Danach wurden sie verbunden. Natalie ließ alles mit sich machen und weinte nur. Sie weinte selbst dann noch, als längst keine Tränen mehr flossen.
2.
Mehrere Verletzte wurden bereits abtransportiert. Die Feuerwehr hatte die Straßen um das brennende Gebäude herum abgesperrt. Als ein Polizeiwagen vorfuhr, riss sich Natalie aus ihrer Trance. Sie war offenbar verarztet worden, dann hatte man sie mit einer Decke in Sicherheit auf der nahen Wiese abgelegt. Um sie herum saß eine Gruppe von Personen, manche husteten, waren verrußt oder tranken Wasser. Die Polizisten sprachen mit einem der Sanitäter, der in Natalies Richtung gestikulierte.
Warum ich? Ich habe doch keine Ahnung, was passiert ist. Sie rekapitulierte, was sie gesehen hatte. Dieses Leuchten als Ursprung für das Feuer würde ihr keiner glauben. Sie selbst hatte Schwierigkeiten, das zu glauben. Entweder man hielte sie für schuldig oder sie würde direkt in die Psychiatrie einwandern. Vielleicht sogar beides. Ihr fehlte sogar ihre Tasche. Die dürfte wohl Asche sein. Ihr Smartphone genauso. Und dann noch Tom… Natalie konnte nicht fassen, dass er tot war, aber niemand überstand so etwas.
Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie sah sich um. Die anderen Patienten, die ansprechbar waren, unterhielten sich miteinander. Sie kannte niemanden. Sie war ja heute das erste Mal in dem Gebäude gewesen.
Ich muss hier weg. Erst mal in Ruhe über alles nachdenken. Niemand kannte sie hier. Also würde man sie nicht identifizieren können. Natalie stand langsam auf. Nur keine schnellen Bewegungen. Ein älterer Polizist sprach noch mit einem Sanitäter und machte sich eifrig Notizen. Natalie nutzte den Moment, sich mit einer schnellen Drehung aus der Situation zu verabschieden. Sie wusste nicht, wie ihr geschah, als sie auf einmal auf den großen Schriftzug “Polizei” auf reflektierendem Untergrund blickte. Ihr entglitt ein leiser Schrei der Überraschung. Ein junger Polizist, der gerade noch mit einer Hausbewohnerin im Gespräch war, wendete nun Natalie seine Aufmerksamkeit zu. Er war über einen Kopf größer als sie. “Ich komme gleich zu Ihnen.” Natalie stand nun da wie angewurzelt und starrte für einen Moment nur auf seine Warnweste. Dann zwang sie sich, sich wieder auf die Wiese zu setzen und kurz darauf beendete der Ermittler sein Gespräch.
Er ging einen Schritt auf Natalie zu, bevor er sich in die Hocke begab. “Keine Sorge, Sie können ruhig sitzen bleiben. Mir macht das nichts aus.” Er schenkte ihr kurz ein aufmunterndes Lächeln und machte sich für Notizen bereit. “Polizeioberkommissar Georg Steller. Wie ist Ihr Name, bitte?” “Natalie Voss.” Jetzt hatte sie ihm doch tatsächlich ihren echten Namen genannt. Wie dumm von mir. “Ich möchte Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Wie haben Sie die Situation erlebt?”
“Ich… äh…”, begann sie und schloss dann wieder den Mund.
“Wir haben Zeit. Keine Sorge. Auf welcher Etage waren Sie denn, bevor der Brand ausbrach?”
“Auf der zweiten, glaube ich. Ich bin das erste Mal hier.”
“Das heißt, Sie waren zu Besuch? Bei wem denn?”
“Er hieß Tom…” Tränen schossen ihr in die Augen, aber sie blinzelte noch dagegen an.
“Tom und weiter?”
“Das weiß ich nicht. Hatte ihn nicht gefragt.”
“In welcher Beziehung stehen Sie denn zu diesem Tom?”
“Wir hatten heute unser drittes Date.”
Herr Steller schrieb ein paar Worte auf seinen Block und fuhr dann fort: “Beschreiben Sie mir bitte die Situation, in der Sie sich zum Zeitpunkt des Feuers befunden haben.”
Wenn Natalie nicht noch gerötete Haut von der Hitze gehabt hätte, wäre sie rot angelaufen. Sie ließ die Frage unbeantwortet. Der Oberkommissar sah sie forschend an. Jetzt wollte Natalie erst recht flüchten. Sie atmete tief ein und rief gereizt hinaus: “Wir hatten Sex, ok?” Jetzt wurde der Polizist rot. “Oh, ich verstehe. Wie haben Sie das Feuer…” Natalie unterbrach ihn, da sie eine Beamtin im Hintergrund bemerkt hatte: “Kann ich vielleicht mit einer Ihrer Kolleginnen darüber reden?” Oberkommissar Steller folgte Natalies Blick mit den Augen, erhob sich und stimmte ihr mit einem Nicken zu. “Selbstverständlich. Einen Moment, bitte.” Er wandte sich ab und ging ein paar Schritte zu einer Kollegin.
Natalie ergriff die Chance, sprang auf und ging mit großen Schritten hinter die nächste Hausecke. Sie sah sich um, ob sie verfolgt wurde. Niemand da. Sie rannte los. Wohin sollte sie laufen? Sie wollte erst mal weg von hier.
Ihr ging schon die Puste aus, als sie einen Ausweg sah. Um die nächste Ecke war eine Bushaltestelle samt haltendem Bus. Mit keuchenden Atemzügen erreichte sie die hintere Tür des beinahe voll besetzten Busses. In einer Vierersitzgruppe fand sie den Platz am Fenster bei ein paar Mädchen, die sich anscheinend in das Nachtleben stürzen wollten. Als sich Natalie mit einem gemurmelten “Entschuldigung” dazwischen drückte, erntete sie ein paar abwertende Blicke. Der Bus fuhr sanft an und Natalie atmete auf. Die Angst steckte ihr immer noch tief in den Knochen und ließ sie ein wenig zittern. Die Teenager verließen ihre Plätze vor der nächsten Haltestelle und standen lieber etwas weiter vorne im Bus.
Der Anblick von Tom und den Flammen erschien ihr in Gedanken. Ihr Herz schlug wieder bis zum Hals. Sie wischte sich mit den dick verbundenen Händen über die Augen. Bisher war ihr noch nicht einmal richtig aufgefallen, dass sie Schmerzen von der Verbrennung hatte. Sie musste es sehen. Unbeholfen zupfte sie an dem Klebeband, dass den Verband an ihren Händen hielt. Mit den Zähnen konnte sie es schließlich aufreißen und wickelte den Verband ab. Ihre Handflächen kamen dick mit Salbe eingeschmiert hervor. Die Haut war rot und aufgeplatzt. Sie berührte den Rand der Wunde mit dem Zeigefinger. Jetzt konnte sie den Schmerz spüren und es faszinierte sie.
Eine Weile blieb sie auf ihrem Platz ungestört und alleine sitzen. Dabei stocherte und pulte sie in der Verletzung, um etwas anderes als Angst zu fühlen. Es schien ihr gerecht, dass es weh tat, weil sie Tom nicht helfen konnte.
Ein paar alte Leute beobachteten sie schräg durch den Bus und tuschelten miteinander. Weiter vorne im Fahrzeug kicherten die Teenager albern und laut. Nachdem der Bus dann ein paar neue Fahrgäste aufnahm, hörte Natalie ein lautes “Fahrkarten, bitte!” Mit automatischer Bewegung griff sie nach ihrer Tasche und…Scheiße, meine Tasche!
Sie sah sich ertappt um und fand den Blickkontakt zum Kontrolleur. Sie wusste nicht, wie sie jetzt noch davon kommen sollte. Der Kontrolleur ließ sich noch ein paar Tickets zeigen, bevor er vor Natalie zum Stehen kam. Natalie starrte auf ihre Füße und reagierte nicht, als der Mann sie ansprach: “Den Fahrschein, bitte!” Er tippte ihr dreimal auf die Schulter. “Hallo, junge Dame? Ich rede mit dir.” In Gedanken versunken reagierte sie nicht auf die Ansprache. Der zweite Kontrolleur kam aus dem vorderen Teil des Busses nach hinten und versuchte ebenfalls, Natalie auf sich aufmerksam zu machen.
“Ich habe meine Karte nicht dabei”, murmelte Natalie verschüchtert. Sie überlegte, ob sie von dem Feuer erzählen sollte, aber entschied sich dagegen, um niemanden auf sich aufmerksam zu machen. Sie hoffte darauf, einen einsichtigen Menschen vor sich zu haben. “Das ist aber nicht gut. Warum hast du dir denn nicht einfach einen Fahrschein gekauft?”
“Ich habe kein Geld dabei.”
“Aber damit bist du schwarz gefahren. Hier ist die nächste Haltestelle. Steig mal bitte mit uns aus.”
“Nein, ich muss nach Hause.”
“Du kannst ja danach zur Bank und dir Geld holen.” Der zweite Kontrolleur warf ein: “Oder wenn das nicht klappt, kann ein hübsches Mädchen wie du bestimmt den Daumen raushalten.”
Arschloch! “Vielleicht habe ich aber keine andere Möglichkeit.” Der Kontrolleur verschränkte die Arme vor der Brust und kniff die Augen zusammen. Der zweite gab dem Busfahrer ein Zeichen und direkt darauf kam die Durchsage: “Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund persönlicher Umstände kommt es zu ein paar Minuten Verspätung. Wir setzen die Fahrt in Kürze fort.” Die anderen Fahrgäste blickten nun auch erbost in Natalies Richtung. “Das darf doch nicht wahr sein.” “Die Zicke soll sich nicht so anstellen.” Feindselige Kommentare häuften sich und Natalie wurde in ihrem Sitz immer kleiner.
“Steig jetzt bitte mit uns aus, sonst rufe ich die Polizei und die holt dich hier gewaltsam raus.” Scheiße, das nicht auch noch! Ihr musste nun schnell etwas einfallen. Der alte Mann, der vorhin bereits mit seiner Frau getuschelt hatte, stand nun auf. “Du junges Gör hältst hier alle auf. Beweg dich jetzt gefälligst!” Er packte sie am Arm und zerrte kräftig an ihr. Sie versuchte sich zu widersetzen, doch landete schmerzhaft im Gang zu Füßen aller. Die Kontrolleure machten einen erschrockenen Satz zurück. Sie schrie auf und strampelte, als sich der Alte nach ihr bückte. Dabei stieß sie ihn mit einem Tritt weg. Er prallte rückwärts gegen die Haltestange und stöhnte auf. Natalie lag auf dem Rücken und beobachtete, dass die Blicke aller Beteiligten auf dem Angreifer ruhten. Dann sah sie den Feuerschein.
Dort, wo ihr Tritt den Mann erwischt hatte, platzte die Haut auf und gierige Flammen bleckten hervor. Er klopfte sich auf den Arm und drehte sich wild hin und her. Die Luft flimmerte und es stank. Natalie erkannte den Geruch brennenden Menschenfleisches. Sie stützte sich auf und betrachtete schockiert, wie der Rentner von den Flammen an seinem Arm umhüllt wurde. Die Kontrolleure schrien ihn an: “AUF DEN BODEN! SCHNELL!” Einer von ihnen zog sich seine Jacke aus, während der andere hilflos vor dem Mann stand und versuchte, ihn zu berühren. Die anderen Fahrgäste blickten wie Natalie auf das schreckliche Schauspiel. Die Teenager kreischten wild und filmten den brennenden Mann mit ihren Smartphones.
Es gelang dem Kontrolleur, den alten Mann mit der Jacke zu umhüllen und auf den Boden zu legen. Dort klopfte er auf den Arm, um das Feuer zu ersticken. Das Opfer schrie nicht mehr und keuchte nur noch erschöpft vor Schmerz. Natalie war durch den Wind. Sie bemerkte ein stechendes Gefühl an ihrer linken Hand. Einzelne, zähflüssige Fäden klebten an ihren Fingern. Ihr Handabruck war im Boden deutlich zu erkennen. Dann schossen aus dem Nichts Flammen an den Sitzen der Vierergruppe hervor, wo sie eben noch gesessen hat. Auch die Jacke, mit der die Flammen erstickt wurden, entzündete den Arm des alten Mannes erneut. Die Helfer schreckten zurück und die Begleiterin des Mannes heulte auf. Die Augenzeugen sprangen auf und drängten zu den Ausgängen. Um Natalie herum war wieder ein Chor von Schreien zu hören. Die Angst ums Überleben packte die Menschen. Instinktiv stießen sie sich beiseite, um in Sicherheit zu kommen.
Natalie richtete sich auf, blickte auf die verletzten Kontrolleure, das alte Paar und die fauchenden Flammen. Sie hatte die besten Chancen, dem Kontrolleur näher bei der Tür aus dem Bus zu helfen. Als sie ihn beim Arm nahm, schrie der Mann laut auf. Sie zog ihn hoch und sprang mit ihm aus der Bustür. Ein knirschendes Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Arm. Der Arm… war… abgerissen. Dort, wo der restliche Körper sein sollte, waren nur glimmende Fetzen von Haut und Muskelfasern zu sehen. In der Bustür fiel der Kontrolleur auf die Knie und wurde von sich rasant ausbreitenden Flammen verschlungen. Sie öffnete ihren Griff und der Arm landete klatschend auf dem Boden. Dann wandte sie sich ab und floh in Panik.
Natalie traute ihrem eigenen Verstand nicht mehr. Habe ich das alles verursacht? Bin ich schuld daran? Die Fragen verwandelten sich in ihrem Kopf zu einem Wirbel aus Vorwürfen. Die verbrannte Haut, die Schreie und der bestialische Gestank. Nur wegen ihr. Während sie rannte, sah sie ihre mit geschmolzenem Plastik verklebte Hand an. Es war immer noch weich und tat verdammt weh. Außerdem war da dieses Flimmern in der Luft. Würde es nochmal passieren? Solange die Hitze um sie herum sichtbar waberte, konnte sie nirgendwohin.
Um Atem ringend zwang sie sich, weiterzulaufen. Jetzt musste sie sich zu Fuß durchschlagen.
3.
Natalie hörte überall in der Stadt Sirenen um sich. Warum verbrenne ich nicht wie die anderen? Sie hatte schreckliche Angst davor, dass es passieren würde, aber sie war heute schon das zweite Mal knapp entkommen, obwohl sie bei der Entzündung der Brände hautnah dabei war. Sie schleppte sich nur noch langsam gehend und keuchend voran.
Eine größere Gruppe an Menschen blockierten das Weiterkommen vor einer Dönerbude. Die Stimmung war locker und die Leute lachten heiter. Einer der Kunden – ein junger Mann mit südländischem Äußeren – ließ seine Bestellung liegen und ging auf Natalie zu.
“Hey, brauchst du Hilfe? Ich rufe einen Krankenwagen.”
“Nein! Nicht nötig.” Ihr fehlte die Kraft, zu schreien, aber war wohl unfreundlich rüber gekommen.
“Du siehst echt schlimm aus. Ich will dir nur helfen.” Er ließ nicht locker. Natalie fand das unglaublich nett, aber sie wollte nicht sein Leben aufs Spiel setzen.
“Ich habe nein gesagt, ok? Jetzt verpiss’ dich bitte endlich!” Der abweisende Ton war gewollt, um ihn zu verschrecken. Er sah sie verwirrt an. Besser, als zu verbrennen.
Sie betrachtete sich in einem verspiegelten Schaufenster. Sie hatte über den ganzen Körper verteilt Rötungen, ihre langen Haare waren an den Spitzen deutlich angesengt und sie hatte Rußflecken auf ihrer Kleidung. Außerdem musste sie sich mehrfach die vom Rauch wunden Augen reiben. Sie erntete immer wieder merkwürdige Blicke von Passanten und kam sich dabei vor wie eine Zirkusattraktion. Hört auf, mich anzuglotzen! Zornige Tränen rollten an ihrem Gesicht hinab. Verzieht euch endlich! Funken stoben an ihrem Atem. “Was zum…” Sie merkte, wie Hitze von ihr ausging. An ihr ging jemand mit einem Eis am Stiel vorbei, das sich sofort verflüssigte. Scheiße, ich muss mich beruhigen… und weg von hier!
Ihre Beine fühlten sich schwer an und raubten ihr die Kraft. Sie setzte sich auf eine Bank an einem kleinen Springbrunnen und gönnte sich einen Moment Ruhe. Ihr war so schrecklich heiß. Sie zog ihre Schuhe aus. Die Sohlen waren ungewöhnlich weich und Natalie erkannte, dass diese angeschmolzen waren. Frustriert legte sie die Schuhe neben sich und rümpfte die Nase wegen dem Gummigestank.
Sie beugte sich über den Rand des Brunnens und machte ihre Hände nass, rieb sich Wasser über Gesicht und Arme und tauchte schließlich ihre Füße ein. Ihre Hände beschwerten sich über jeden Kontakt mit dem kühlen Nass. Natalie nutzte die Gelegenheit und die Ruhe, sich das geschmolzene Plastik aus ihrer Hand zu zupfen. Jedes Mal fühlte sich wie ein Nadelstich an und sie riss sich die Haut ein. Blut quoll unter dem Hautfetzen hervor und rann über ihre Hand hinab ins Wasser. Natalie erschrak, als die Tropfen laut im Wasser zischten. Schnell drückte sie mit der anderen Hand auf die blutende Stelle. Es schmerzte, aber das nahm sie in Kauf.
Ihre Gedanken kreisten, während die Sonne langsam hinter den Hausdächern verschwand. Es musste bald 22 Uhr sein. Jugendliche zogen durch die Straßen. “Wow, voll krass. Ich habe gehört, in dem Bus sind drei Leute verbrannt.” Der Junge schaute wie gebannt auf sein Smartphone. “Das Video hat schon 20.000 Klicks. Die schreiben hier auch was von einer Brandstifterin. Da gibt es auch eine Aufnahme von der. Die Polizei hat eine Fahndung herausgegeben.” Sie machten geschmacklose Späße und ließen Natalie unbehelligt sitzen. Ihr war nun nicht mehr ganz so heiß, aber erschöpft war sie dennoch. Wo sollte sie nun hingehen? Im Studentenwohnheim würde sie sofort alles in Brand setzen. Ihr kamen die grausamen Bilder wieder hoch und sie rang eine Weile um ihre Fassung. Ein Auto hielt neben ihr auf der Straße. Sie kümmerte sich nicht nicht darum und versuchte sich weiter abzukühlen. Das Wasser wurde langsam warm.
Plötzlich hörte sie hinter sich eine Autotür zuschlagen. Zwei Polizisten kamen langsam auf sie zu. Beide hatten die Hand an der Hüfte und umkreisten Natalie. Erschrocken sprang sie auf, stolperte quer durch den Brunnen und floh. Ohne Schuhe rieb sie sich die Fußsohlen am rauen Straßenasphalt auf. “Stehen bleiben, Polizei!” Die Gesetzeshüter setzten ihr nach und holten schnell auf. “Lasst mich in Ruhe!” Natalie weinte erneut und regte sich darüber auf, dass sie wieder nicht klar sehen konnte. Ein Ruck ging durch ihren Körper. Sie kam mit den verletzten Händen am Boden auf und rutschte ein paar Zentimeter. Vor Schmerz wimmernd wurde sie von einem Polizisten zu Boden gedrückt und ihre Hände wurden auf den Rücken gedreht.
Sie wand sich im Griff des Beamten und schrie: “Weg von mir! Geht weg, habe ich gesagt!” Der zweite Polizist bedrohte sie mit vorgehaltener Waffe. “Polizei, widersetzen Sie sich nicht.” Natalie widersetzte sich mit aller Kraft. Erfolglos. Das metallische Klicken und das Zusammenkneifen ihrer Handgelenke verriet ihr, dass sie gefesselt war. Der Polizist stieg von ihr herab und zog sie nach oben. “So, Fräulein. Wir gehen jetzt gemeinsam zu unserem Wagen und dann beantworten Sie uns ein paar Fragen, verstanden?” Natalie geriet in Panik. Sie wollte niemandem etwas antun. Die Polizisten schubsten Natalie am Brunnen vorbei und verfrachteten sie auf die Rücksitzbank des Polizeiwagens. Die Beamten setzten sich vorne ins Auto und gaben per Funk durch:
“Hier Wagen 9. Haben die zur Fahndung ausgeschriebene Person gefunden. Begeben uns nun zurück zur Leitstelle.” Natalie war in ihren panischen Gedanken gefangen. Ihre Augen zuckten hin und her. Es riecht verbrannt. Wo passiert es? Sie malte sich aus, wie es sein würde, in einem brennenden Autowrack zu sterben. “Riechen Sie das?” Sie wollte die Polizisten nicht auch noch auf dem Gewissen haben. “Keine Spielchen!” Der Beifahrer drehte sich zu ihr um und sah ihr in die Augen. “Wenn Sie irgendetwas anstellen, werden wir das merken und Sie machen alles nur noch schlimmer.” Natalie erwiderte seinen Blick nicht und starrte mit wachsendem Schrecken über dessen Schulter.
Der Fahrer trug ein kurzärmliges, blaues Hemd, welches an seiner linken Flanke rötlich verfärbt war und leicht qualmte. “Feuer! FEUER! Passen Sie auf!” Natalie hyperventilierte, während der Polizist auf dem Beifahrersitz erschrocken herum blickte. Dessen Kollege schrie auf, als der erste Geruch von verbranntem Fleisch Natalies Nase erreichte und sie vor Übelkeit benommen machte.
Der Polizeiwagen kam mitten auf der Straße zum Stehen und die folgenden Fahrzeuge stimmten ein Hupkonzert an. Der Fahrer sprang aus dem Auto und begann, sich am Boden zu rollen. Er verschwand aus Natalies Sichtfeld. Stattdessen sah sie das orange Flackern von Feuer. Der Partner eilte um das Auto herum, öffnete den Kofferraum, holte eine Decke heraus und half seinem Kollegen, die Flammen zu ersticken. Natalie schüttelte sich unkontrolliert und versuchte, ihren Handschellen zu entkommen. Sie zerrte daran und rieb sich ihre Handgelenke wund. Die verzweifelten Schreie der Polizisten bemerkte sie nicht mehr. Ihr Fluchtinstinkt gewann wieder die Oberhand und sie gab ihr bestes, mit den Händen hinter dem Rücken die Seitentür zu öffnen. Sinnlos, wie sie erkannte, denn die Tür war verschlossen.
Der Polizist rief flehend um Hilfe. Die Flammen färbten das linke Fenster des Autos schwarz. Natalie hörte nun schon wieder, wie ein Mensch wegen ihr sein Leben ließ. Sie musste sehen, was passierte. Der Mann lag am Boden und krümmte sich. Seine Kleidung stand in Flammen und der zweite Polizist klopfte mit der Decke darauf. Dort, wo Natalies Blut sein Hemd befleckt hatte, klaffte nun ein Loch im Torso des Mannes. Schwarzes Fleisch bröckelte in Klumpen von seinen Rippenknochen, die porös aufbrachen. Funken traten aus dem Inneren hervor. Dahinter blähte sich ein Organ im letzten Kampf schlagartig auf und faltete sich wieder zusammen. Ein paar krampfähnliche Versuche, den Lungenflügel mit genügend Sauerstoff zu füllen, zeugten schließlich vom grausamen Tod. Vor aller Augen verzehrte die Hitze den gesamten Körper.
Der verbleibende Polizist gab den Funkspruch mit gebrochener Stimme durch: “Wagen 9 an Zentrale, Beamter verwundet. Verdächtige ist äußerst gefährlich und benötigt spezielles Transportfahrzeug zur Sicherung. Wiederhole, benötige umgehend brandfesten Transporter.” Die Leitstelle antwortete nach einer kurzen Pause. “Was? Bitte wiederholen?”
Er lehnte sich mit gezogener Pistole durch die Beifahrertür. “Wie hast du das gemacht, du Schlampe? Er ist tot.” Sie kniff ängstlich die Augen zusammen, als die Mündung der Waffe direkt auf ihren Kopf zeigte. “Ich weiß nicht, was hier passiert. Ehrlich!” Der Beamte presste die Lippen aufeinander und seine vom Qualm gereizten Augen bekamen einen aggressiven Ausdruck. “Ich schwöre dir, wenn du nur eine Bewegung machst, sorge ich dafür, dass du keinen Prozess mehr brauchst.” Natalie musste durch ihre von Hitze gekrümmten Wimpern blinzeln, um ihm ins Gesicht zu schauen. Sie zitterte vor Furcht. “Bitte nicht. Ich brauche Hilfe.” Ihre Kehle war komplett ausgetrocknet und alles was herauskam, glich eher dem Krächzen eines Raben.
Ein zweiter Streifenwagen hielt neben dem Fahrzeug, dicht gefolgt von einem Krankenwagen. Der Notarzt konnte auch nicht mehr machen, als den Tod des Opfers festzustellen. Als die neu hinzu gekommenen Polizisten sich näherten, konnte Natalie Oberkommissar Steller sehen. Er machte sich ein Bild von der Situation und besprach sich kurz mit Natalies Haftmeister außerhalb vom Fahrzeug. Es tat ihren Nerven gut, nicht mehr länger in den Lauf einer Waffe zu starren.
Sie sah sich um und erkannte die Gegend. Sie wohnte hier in der Nähe. Die Universität war auch nicht weit entfernt. Sie wusste, dass ihre Freunde auch in der Gegend wohnten. Was, wenn sie noch mehr Leute tötete, ohne es zu wollen? Tom war nur der Anfang eines grässlichen Abends voller schauderhafter Ereignisse.
Ihre Handgelenke fühlten sich durch die engen Handschellen schrecklich an. Mittlerweile wurde sie zu jedem Zeitpunkt von mindestens einem Polizisten beobachtet. Die anderen versuchten, die Stelle auf der Straße abzusichern. Menschen sammelten sich am Fahrbahnrand und beobachteten das Spektakel. Natalie konnte in ihren wütenden Blicken sehen, dass sie über sie urteilten. Sie gaben ihr bestimmt irgendwelche scheußlichen Spitznamen. Wieder wurde sie gefilmt. Es war so demütigend.
Ihr tat alles weh, aber die Handgelenke wurden eine echte Qual. Tatsächlich konnte sie spüren, wie sich die Fesseln hinter ihrem Rücken verformten, Haut und Sitzbezug versengten und schlussendlich von ihr abfielen. Dann schoss eine Stichflamme durch den Innenraum des Wagens und setzte alles in Brand. Natalie kreischte im HIlfe, hämmerte und stampfte gegen die verschlossene Tür. Ihre Haare gerieten in Brand, sie schleuderte den Kopf herum, um sie zu löschen. Oberkommissar Steller eilte herbei und riss die Tür auf. Die Flammen kamen ihm gefährlich nahe und er reichte Natalie die Hand. Schnell half er ihr heraus, musste sie jedoch wegen der heißen Glut fallen lassen. “Weg vom Auto!” Er bemühte sich, ihr aufzuhelfen, doch wich immer wieder von einer neuen Woge des Feuers zurück.
Natalie lag auf der Straße und konnte spüren, wie diesmal ihr eigener Körper die Flammen ernährte. Sie wälzte sich, kreischte und bettelte um Hilfe. Die Rettungskräfte kamen nicht nahe genug an sie heran, ohne sich selber zu verbrennen.
Mit der Kraft einer Explosion breitete sich ein Feuersturm um sie herum aus und erfasste einige der Zuschauer. Die Luft war erfüllt von Funken und Hilfeschreien. Oberkommissar Steller wurde neben dem Auto zu Boden geschleudert und rang um Atem, während die Hitze seine Haut zerfraß. Natalie wollte ihm die Hand reichen, doch sie wusste, dass es alles nur noch schlimmer machen würde.
Die flimmernde Luft wurde von Flammenzungen in die Höhe gedrückt und verformte eine nahe Straßenlaterne. Der brennende Polizeiwagen rauchte stark. Mit blanken Füßen kämpfte sich Natalie vom Auto und von Herrn Steller weg. Nie war ihr eine Bewegung so schwer gefallen, wie sich unter der Qual zu verbrennen gezielt zu bewegen. Sie kreischte, jeder weitere Schritt wirbelte Funken auf. Der Asphalt unter ihren Füßen schmolz und sie sank in die erweichte Oberfläche ein.
Ein Löschzug der Feuerwehr erreichte die Szene viel zu spät und die Feuerwehrleute rannten ihr in Schutzausrüstung entgegen. Zuerst entleerten sie einen Handfeuerlöscher, dessen Schaum nicht einmal auf einen Meter an sie heran kam und verdunstete.
Die Feuerwehr wich von ihr zurück. In diesem Moment schoss eine riesige Stichflamme aus dem Auto. Der Feuerball verschlang die Retter und spie sie wie ein wütendes Ungetüm einfach wieder aus. Reglos blieben sie liegen. Immer mehr Polizei- und Feuerwehrfahrzeuge trafen an der nahen Kreuzung ein. Sie zogen einen Kreis um Natalie.
“GEHT WEG!” Ihr spitzer Schrei entfachte fünf Meter vor ihr eine Hausfront wie der Atem eines Drachen. Die Polizisten schauten sich für einen Moment fragend an. Sie hoben zögerlich ihre Waffen. Mehrere Pistolen eröffneten zugleich unter lautem Knall das Feuer. Alles, was Natalie verspürte, waren die Luftwirbel in der Hitze und glühendes, flüssiges Metall, das auf ihrer rissigen Haut aufkam und sie verbrühte.
Die Agonie war überwältigend. Ihr geschundener Körper brach an mehreren Stellen auf und entfesselte nur noch mehr Flammen. Das Fleisch ihrer Hände wurde schwarz und verkrustet. Löcher taten sich auf und sie konnte die Knochen darunter erkennen, welche Funken ausstrahlten. Ihr rechtes Auge versagte ihr den Dienst, als der Augapfel durch die schiere Wärme platzte. Sie wollte weinen, doch in ihrem Körper befand sich kaum noch Flüssigkeit.
Vor den Augen unzähliger Zuschauer und Opfern des Infernos rissen die Flammen Natalies Körper auseinander. Ihre Beine brachen unter ihr weg, die Arme lösten sich aus der Verankerung ihrer Schultergelenke. In diesen letzten, schier endlos wirkenden Momenten wurde ihr Verstand vom Wahnsinn verzehrt, bevor sie sich zur Gänze in eine Wolke aus Funken auflöste und auf einer vom Feuer aufgepeitschten Luftströmung davon getrieben wurde.
Am Rande des Geschehens stand die klapprige Gestalt eines Mannes mit eingefallenem Gesicht und tiefen Augenringen. Das Hölleninferno spiegelte sich in seinen runden Brillengläsern. Mit einer Hand hielt er seinen Hut auf dem Kopf, während die andere locker in seiner Hosentasche steckte. Die Mundwinkel waren vertrocknet und aufgerissen. Er grinste zufrieden. Er wartete, bis alle fort waren und duckte sich unter dem Absperrband hindurch. Er betrachtete den verformten Asphalt, die rußigen Spuren und das zerstörte Fahrzeug. Genüsslich sog er die Luft tief ein und nahm sich ein Stück verbrannten Knochen, der im Inneren noch leicht glimmte. Eine feine Erweiterung für seine Sammlung. Die anderen würden bestimmt neidisch sein.
- Gruselgeschichte: Am schwarzen Brett - 16. Oktober 2024
- Kurze Gruselgeschichte: Das Spukhaus. - 21. Mai 2024
- Gruselgeschichte: Nicht öffnen! - 19. Mai 2024