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Gruselgeschichte: Nahrung des Waldes

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4.4
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Wochenlang versuchte ich mich aus den Fängen der Dornen zu befreien, die sich immer tiefer in meinen Körper bohrten. Ich fragte mich, weshalb es mir nicht vergönnt war zu sterben. Ich dachte ich wäre gezwungen, ewig, von den Dornen durchbohrt, zu verweilen, bis sich mein Körper langsam in eine lebende Mumie verwandelt, die nur noch durch Atem und Herzschlag einem lebenden Menschen gleicht.

Ich war voll von Enttäuschung… nicht nur durch mich und meinem Übermut, sondern auch von meinem Meister, dessen Vertrauen in meine Magie mich erst in die Situation befördert hatte. Er hatte doch gewusst, dass es mit schwarzer Magie möglich ist, seine Seele nach dem Tod in bestimmte Formen von Objekten zu transferieren.

Schon als ich damit begann, mich durch den Wald voller Ranken und Dornen, der das Schloss umgab, zu kämpfen, bemerkte ich es. Diese Ranken dachten. Sie waren intelligent und arbeiteten gegen mich.

Der Sage nach haben verschiedenste Adelige versucht, die Tochter des Fürsten von ihrem Bann zu erlösen. Dass es wirklich Personen gab, die dies versucht hatten, erkannte ich bereits, als die Ranken zum ersten Mal versuchten mich zu umschlingen. Selbst mit einfachen Formen arkaner Magie waren sie kein Problem für mich. Doch Personen, denen der Zugang zum Arkanismus verwehrt war, hätten nicht einmal in solch einer Situation eine Chance gehabt.

In den meisten Fällen half mir einfache Flammenmagie, die ich benutzte um meine Kräfte zu schonen. Sie reichte zu Beginn sogar dazu aus, dass mich die Ranken komplett mieden, da sie mein Feuer fürchteten. Wenige Zeit später entdeckte ich die erste gequälte Seele. Im Gegensatz zu mir waren viele Personen nicht in der Lage, sich aus den Dornen zu befreien. Ich konnte mir nur ausmalen, welche Qualen sie erleiden mussten, bevor sie ihr Bewusstsein verloren.

Erst umschlingen einen die Ranken, während sich deren Dornen in das Fleisch des Opfers schneiden. Sobald das Opfer unfähig ist sich zu bewegen, verwandeln sich die Dornen, die sich unter die Haut des Opfers gebohrt haben, ebenfalls in kleinere Ranken und durchwachsen den kompletten Körper. Später durchbohren große, spitze Ranken Gliedmaßen und Torso um den Körper vollends von innen zu fesseln.

Das kleinste Zucken wird nun von extremen Schmerzen begleitet, die verhindern, dass sich das Opfer losreißen und so entkommen könnte. Die erste Person die ich traf, schien bei lebendigem Leibe mumifiziert worden zu sein. Sie war komplett durchwuchert und von Moos bedeckt.

Augen und Haare fehlten komplett, während die Haut sich am besten als dunkelbraun und ledrig beschreiben lässt. Überreste von einst prunkvoller Kleidung befanden sich am Boden, während weitere Fetzen meterweit über dem Opfer an Ästen hingen.

Zunächst ging ich davon aus, dass die Person verstorben sei. Als ich meinen Weg fortsetze, schreckte ich aufgrund eines tiefen und trockenen Keuchens auf. Ich näherte mich abermals dem Geschöpf und fühlte seine Wangen. Sie waren warm. Aus seinem Mund, der fast vollständig mit herauswachsenden Ranken und Ästen gefüllt war, konnte ich ein weiteres Keuchen hören.

Er atmete… wenn auch in äußerst geringen Zeitabständen.

Ich fühlte ebenfalls einen äußerst langsamen Herzschlag.

Aus Mitleid nahm ich ein Messer aus meiner Tasche um ihn durch einen Stich in sein Herz von seinem Leid zu erlösen. Leider konnte ich ihm so nicht weiterhelfen, denn der Herzschlag blieb bestehen und auch als ich ihm den Brustkorb aufschnitt und sein Herz , gefolgt von einer großen Masse schwarzem Blut, entnahm, atmete er immer noch.

Entgegen aller Mühen begann mit meinem Messer seinen Kopf abzutrennen, was aufgrund der kurzen Klinge ein sehr langwieriger und aufwendiger Prozess war. Endlich schien er von dieser Welt gewichen zu sein, auch wenn nun meine Robe von dem schwarzen und dickem Blut des Opfers bedeckt war.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Vorstellung, wie viele Männer ihr „Leben“ im Dornenwald gelassen hatten. Schon bald breitete sich immer mehr die Mischung aus Erstaunen und Mitleid in mir aus, als ich weitere Opfer vorfand. Einige befanden sich sogar auf Bäumen in gefühlten 20 Metern Höhe.

Einer der Gepeinigten war nur noch ein Torso mit Kopf. Es schien, als verlor er beim Versuch zu entkommen seinen Unterkörper und konnte erst gefasst werden, als die Ranken ihm seine Arme abrissen und ihm so am Weiterkriechen hinderten.

Ich war nicht in der Lage sie alle zu erlösen. Wenn man bedenkt, dass ich Stunden gebraucht hatte um einen zu töten, hätte ich Jahrzehnte gebraucht um sie alle von der Qual des ewigen Lebens zu befreien.

Die Ranken verloren mit der Zeit ihre Scheu und ich sah mich immer häufiger gezwungen zu kämpfen. In immer geringer werdenden Abständen versuchten sie mich zu ergreifen. Anfangs genügte es noch, mit einem einfacher Feuermagie meine Hände zu entflammen und sie den Ranken drohend entgegenzuhalten. Doch schon bald sah ich mich gezwungen, das Feuer aktiv gegen die Ranken einzusetzen und mir mit einem gewaltigen Flammenschlag einen Weg durch die Bäume und Hecken zu bereiten, auch wenn diese innerhalb kürzester Zeit wieder nachwuchsen.

Es verging nicht viel Zeit, bis ich kein weiteres Opfer mehr vorfand. Dies wies darauf hin, dass kein Mensch bisher soweit in den Wald vorgedrungen war.

Unbehagen verursachte der Gedanke, dass ich nun der Erste war, der diesen Boden seid 400 Jahren betreten hatte. Es vergingen Stunden, in denen ich durch den Wald wanderte, stets verfolgt von den Ranken. Gelegentlich schossen gewaltige Dornen aus dem Boden, die mich stets nur knapp verfielen.

Von lebendigen Wäldern hatte ich bereits einmal in Büchern gelesen. Oft wurden sie von der Seele eines verstorbenen Anwenders der schwarzen Magie gesteuert. Dieser opferte meist seinen irdischen Körper in einem Ritual.

Dies erklärte auch, warum der Himmel komplett von Wolken bedeckt war. Die Wolken dienten als eine Art Schutz, da schwarze Magie das Licht fürchtet.

Der Wald schien endlos. Es vergingen Stunden um Stunden und meine magischen Kräfte schienen schon bald dem Wald zu erliegen. Für den Notfall besaß ich eine Phiole, gefüllt mit speziellem heiligem Wasser. Natürlich spreche ich nicht von üblichem Weihwasser. Um die stärksten Formen dunkler Magie zu bekämpfen, bedarf es der Hilfe von Engelstränen.

Mein Meister bat mich, die Phiole nur in äußerster Lebensgefahr zu verwenden. Jahrelange Arbeit und Erkundung war von Nöten, um nur an Tropfen dieser Reagenzie zu gelangen. Endlich, nach Stunden des kräftezehrenden Marsches, erreichte ich eine Lichtung. Sie wirkte wie ein paradiesischer Fleck in dieser grünen Hölle. Als ich die Mitte dieser Grünfläche erreichte, verleitete mich die Last meines eigenen Gewichtes zu einer Rast.

Magier benötigen gewiss nicht viel Verpflegung. Während des langen Studiums lernt man den Hunger zu unterdrücken. Mächtige Magier waren in der Lage, ihren Bedarf nach Nahrung bereits komplett zu annullieren. Geringer Proviant führt letztendlich auch zu geringerer Last und lässt einen auf langen Reisen beweglich bleiben.

Einzig eine Flasche alten Wein hatte ich mit mir. Sie war perfekt für dir Situation, in der ich mich gerade befand. Ich öffnete sie und nahm ein paar Schlucke, während ich mir in Gedanken selbst die Geschichten erzählte, bei denen ich als kleiner Junge stets meinem Meister mit offenen Ohren zuhörte. Ich liebte die Abenteuer, die mein Meister in seinen jüngeren Jahren erlebt hatte. Dies waren die seltenen Momente in denen sich sein ernster Ton zu einem Sanften wandelte.

Einst erzählte er von der Stadt ohne Farben, wie er sie immer nannte, die wohl völlig aus unseren Geschichtsbüchern entfernt worden war. Mein Meister besuchte einst diese „Stadt“, wenn man sie noch so nennen möchte. Sie bestand nur noch aus schwarzen Ruinen und grauem Staub, der den Boden versteckte. In der Luft befand sich ein weißlicher Nebel, der einen daran hinderte den Himmel zu erkennen. Der Geruch hingegen war komplett neutral. Vielmehr existierte er gar nicht erst.

Anstatt dass mein Meister die Stadt sofort wieder verließ, ließ er sich an diesem verlassenen Ort für mehrere Jahre nieder und erforschte ihn. Er wollte die Geschichte erkennen und niederschreiben, die sich hinter diesem Ort versteckte.

Schnell fand er in verschiedenen Manuskripten und Aufzeichnungen mehr über die Stadt und ihre Bewohner heraus. Es schien, als führten die Bewohner ein harmonisches Leben. Er fand keinen einzigen Hinweis über das Schicksal der Stadt. Ab einem gewissem Datum war kein einziges Dokument mehr vorhanden. Nicht einmal etwas Interessantes konnte er aus der Stadt bergen.

Auf seinem Rückweg durchstreifte er ein paar Täler, bis er auf ein altes Bauernhaus stieß. Da mein Meister noch einen langen Weg vor sich hatte, entschied er den Besitzer des Hauses nach einem warmen Bett zu fragen.

Als er an der offenen Tür klopfte bekam er keine Antwort. Nach mehreren Versuchen öffnete er sie und fand auf einem Stuhl eine wohl schlafende Person vor, die ihm den Rücken zugewandt hatte. Er näherte sich ihr leise, auch wenn ein leises Vorgehen aufgrund des alten und quietschenden Bodens im Prinzip unmöglich war.

Als er fast in der Lage war, in ihr Gesicht zu blicken, hörte er ein leises Schnarchen. Bei der Person handelte es sich um eine wohl sehr alte Frau. Es fiel ihm schwer die Person überhaupt als Frau zu bezeichnen, da ihre schneeweiße, und faltige Haut einen schauderhaften Anblick mit all den schwarzen Narben und Warzen bot. Auch fiel ihm auf, dass die Frau kaum noch Kopfbehaarung besaß. Ihre wenigen Haare flatterten in alle Richtungen. Es war offensichtlich, dass sie länger gelebt hatte als ein normaler Mensch überhaupt leben kann. Nicht einmal im Traum dachte er daran, diese Gestalt zu wecken.

Als er in die Ecke rechts neben sich blickte, fand er ein junges Mädchen im Alter von etwa 17 bis 20 Jahren an einen Stuhl gefesselt vor. Sie war mit einem Tuch geknebelt und blickte … oder viel mehr starrte meinen Meister an, ohne einen Ton von sich zu geben.

Mein Meister hielt nur seinen Zeigefinger vor seinen Mund und flüsterte: „Bitte sei leise. Keine Angst, ich hol dich hier raus.“ Unerwarteter waren die Schreie, mit denen sie ihm entgegnete. Dank des Tuches war es eher ein leises Gebrabbel, doch anhand der aufgerissenen Augen erkannte mein Meister, dass sie am liebsten laut los geschrien hätte.

Er blickte zurück auf die alte Frau. Sie schlief immer noch. Anschließend näherte er sich wieder der Gefesselten, die immer noch Versuche unternahm um loszuschreien. „Bitte … so sei doch leise..“, flüsterte er abermals. Sie erhörte seine Bitte und verstummte, während sie ihre Augen krampfartig zusammenkniff.

Als er sie erreicht hatte, entfernte er das Tuch aus ihrem Mund. Dies schien ein Fehler gewesen zu sein, denn das junge Mädchen begann wieder laut zu schreien. Es waren jedoch keine Hilfe-, oder Angstschreie…. nein… es waren Schmerzensschreie. Sie waren so laut und eindringlich, dass mein Meister behauptet, sie würden ihn noch heute in seinen Träumen verfolgen.

Während das Mädchen schrie, lief Speichel aus ihrem Mund, gefolgt von einer großen Menge Blut. Die Menge des Blutes erhöhte sich immer mehr, sodass das Mädchen in wenigen Sekunden nicht mehr in der Lage war zu schreien. Stattdessen war sie zu sehr damit beschäftigt, ihr Blut zu erbrechen. Während mittlerweile auch aus anderen Körperöffnungen der rote Lebenssaft herausquoll, begann das Mädchen nun auch ihre Innereien zu erbrechen. Wahrscheinlich war sie zu diesem Zeitpunkt nicht einmal mehr am Leben und nur der Fluch steuerte ihren Körper noch. Eine sogenannte Masteinigung lässt erst dann von einem Körper ab wenn selbst die Knochen, zu einer breiigen Flüssigkeit gelöst, den Körper verlassen haben.

Es dauerte, bis sich mein Meister aus seinem Schockzustand lösen konnte. Genauer gesagt, waren es die Worte einer alten Frau die ihn aus seiner Ekstase lösten. Er öffnete seine Augen und fand sich voll mit dem Blut des jungen Mädchens wieder, während er in einer Pfütze von rotem Lebenssaft und verflüssigten Eingeweiden stand.

Nur noch die Haut des Mädchens, eine leere leblose Hülle, befand sich auf dem Stuhl. Hinter ihm hörte er ein Gemurmel. Es war leise, doch bereits die ersten Worte dieses Fluches ließen meinen Meister erschaudern. Blitzschnell drehte er sich um und konzentrierte sich auf die Worte der Frau, während er auf ihre Lippen starrte. Anschließend kniff er seine Augen zu und schrie mit geballter Kraft: „Schweig!“

Der Spruch gelang ihm, die Frau war nicht mehr in der Lage, auch nur einen Laut von sich zu geben. Einen anderen Zauberspruch zu annullieren, erweist sich als äußerst kompliziert, da man diesen Prozess nur dann üben kann, wenn jemand versucht einen zu verfluchen.

Schnell wurde meinem Meister bewusst, um was es sich bei der alten Frau handelte. Er zielte mit dem Zeigefinger direkt auf ihr Herz und feuerte einen einzigen, rasiermesserscharfen Funken auf sie ab. Eben dieser Funke durchbohrte ihr Herz und brachte sie für immer zu Fall. Nun war es an meinem Meister, schnell zu handeln. Ihm war bewusst, dass es sich bei der Person um eine Frau handelte, die sich um an magische Kräfte zu gelangen mit einem Dämonen einließ. Er wollte dennoch wissen, was diese Frau dazu getrieben hatte, den Handel einzugehen.

Man zahlt einen hohen Preis, wenn man einen solchen Handel mit den Dämonen eingeht. Wenn die Seele innerlich verdirbt, schlägt sich dies auch auf die Optik nieder. Die Haut beginnt bereits zu Lebzeiten zu verwesen und einem ist es nicht vergönnt auf natürlichem Wege zu sterben.

Um ein genaues Abbild ihrer Erinnerung in die Realität zu projizieren, benötigte er ihr Gehirn. Dieses musste er jedoch entfernen, bevor die Hexe komplett starb. Sieben Minuten blieben ihm an Zeit. Den genauen Vorgang möchte ich lieber nicht in dem Maße beschreiben, wie es mir mein Meister einst erzählte. Letztendlich aber gelang es ihm, das Gehirn, welches er zu einem Pulver verarbeitet hatte, in einen See zu streuen, um im Spiegelbild des Wassers die Vergangenheit der Frau zu erkennen.

Mein Meister war in der Lage, den kompletten Lebenslauf der alten, vernarbten Frau in Erfahrung zu bringen. Sie war einst ein junges Mädchen, welches auf den Namen Domilia hörte. Als Tochter einer wenig erfolgreichen Kaufmannsfamilie, die aufgrund einer Erbkrankheit mit dem Untergang rang, war sie gezwungen mit anzusehen wie ihre eigene Mutter auf dem Scheiterhaufen brannte. Ihre Mutter war nach dem Tod ihres Vaters der letzte Mensch, der ihr noch nahe stand. Die Schuld für den Tod ihrer Mutter gab Domilia sich selbst. Dabei wollte sie nur doch nur ihrer Familie mit einem Hauch von Magie aus ihrer Misere helfen.

Letztendlich war es jedoch das dämonische Blut in Domilia, das vor Rachlust in ihren Venen kochte. Ein naives sechzehnjähriges Mädchen lässt sich leicht von den süßlich, verführerischen Worten eines Dämonen bezaubern.

Wenn der Ernährer einer Familie dahinscheidet, bedarf es einem Wunder, um sich vor dem Elend zu bewahren. Nur die niedersten Dämonen wagen es, solch ein Wunder zu versprechen. Nur eine junge leichtgläubige Frau vermag es, solchen Lügen zu glauben. Und letztendlich ist nur eine Mutter in der Lage, sich für den Leichtsinn ihrer Tochter zu opfern.

Doch Monate später, als Hunger und Leid Domilia nicht den Tod schenken konnten, trat der Dämon erneut hervor. Als er Domilias Sehnen nach Vergeltung an den Bürgern der Stadt roch, nahm er erneut Gestalt in unserer Welt an. Doch war es nicht die Gestalt, nach der sich der Dämon sehnte. Ihm verlangte es danach, durch Domilias Hilfe, physische Gestalt zu erlangen.

Domilia selbst sammelte, ohne große Gedanken zu opfern, die nötigen Materialien für die Beschwörung zusammen. In der Kanalisation, in der sie inzwischen lebte, stellte dies keine besondere Herausforderung da. Ein Dämon, der dass erste Mal, bestehend aus Fleisch und Blut, unsere Welt betritt, ist von einem unbeschreiblichen Blutdurst erfüllt. Angetrieben von der Todsünde der Völlerei, verzehrte er die Stadt. Der genaue Vorgang ist schwer zu beschreiben, doch der Dämon fraß nicht einfach nur die Bewohner der Stadt. Er verzehrte förmlich die Seele der Stadt. Genau diese Stadt hörte somit indirekt auf zu existieren, da sie mit dem Verlust ihrer Seele aus den Gedächtnissen aller Menschen gelöscht wurde.

Einzig Domilia verblieb für ein paar Jahre, bis sie einst aufbrach, um einen Bauern zu ermorden und sich in dessen Hütte niederzulassen.

Ich versank immer weiter in meinen Gedanken, die sich hin zu Träumen wandelten. Ich begann mich ins dichte Gras zu legen. Die Weinflasche war noch zu großen Teilen voll, weshalb mich die Müdigkeit verwunderte. Doch ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, packte mich der Griff der Müdigkeit und riss mich in die Welt der Träume.

Im Traum sah ich ich die verschwommene Silhouette meiner Mutter. Mir war dieser Traum durchaus bekannt. Ich hatte meine Familie nie kennen gelernt, deshalb konnte ich meine Eltern noch nie in einem meiner Träume klar erkennen. Mein Meister fand mich einst als Säugling zwischen Müllbergen und Essensresten. Ich wurde achtlos weggeworfen.

In meinem Traum beobachtete ich immer wieder meine Mutter, wie sie mich in einem heruntergekommenen Haus zusammen mit zwei anderen Kindern gebar. Ich war ein Drilling… zumindest in meinem Traum. Es war meine Intuition, die mir verriet, dass sich bei der Person um meine Mutter handelte. Als sie auch das letzte Kind lautlos aus sich gepresst hatte, stand sie ohne ein Anzeichen von Schwäche auf. Es klopfte an der Tür.

Als meine Mutter die Tür öffnete, betrat eine weitere Frau geduckt den Raum. Im Vergleich zu meiner Mutter, ist sie beschreibbar. Sie war komplett in weiß gekleidet. Ihr Gesicht war so fein und makellos, wie das eines Engels und ihr Haar war seiden blond. Die weiße Frau war auffallend groß, wenn nicht sogar riesig. Ich schätze ihre Größe auf fast drei Meter, da sie nicht in der Lage war aufrecht zu stehen.

Meine Mutter kniete vor ihr nieder und küsste ihre Hand. Große Teile des Bodens waren noch vom Blut aufgrund der Geburt bedeckt. Die Säuglinge schrien, während sie auf dem kalten Boden lagen.

Die in weiß gekleidete Frau näherte sich einem der Säuglinge. Sie nahm ihn hoch und lächelte, als sie ihn anblickte. Anschließend öffnete sie ihren Mund. Sie öffnete ihren Mund in solch einem Maße, wie es für einen Menschen unmöglich war. In einer schnellen Bewegung nahm sie das Kind in den Mund und verschluckte es in einem Stück.

Meine Mutter kniete weiterhin mit dem Kopf zur Tür gerichtet, als die Besucherin diesen Vorgang mit den anderen zwei Säuglingen wiederholte. Wäre die Gestalt meiner Mutter klarer, hätte ich erkennen können inwiefern sie diese Situation emotional berührte, doch ihr Antlitz war zu verschwommen.

Die weiße Frau war wieder im Begriff das Haus zu verlassen, als sie auf einmal begann sich vor Schmerzen zu krümmen. Eine breiige schwarze Flüssigkeit bahnte sich den Weg aus ihrem Mund. Ununterbrochen begann sie den schwarzen Brei zu erbrechen. Aus der Pfütze erhob sich ein kleiner Junge.

Die Frau blickte ein letztes Mal zu meiner Mutter und sprach mit neutraler Stimme: „Es ist vollbracht“, bevor sie das Haus verließ. Bis heute zweifle ich an der Realität dieses Traums. Er ergab für mich noch nie einen wirklichen Sinn. In keines der Bücher die ich in meinem Leben bis heute gelesen hatte, stand etwas über einen solches Geschehen beschrieben. Es gibt keinen Engel der Kinder verspeist. So etwas kann es einfach nicht geben.

Es war wieder Tag, als ich erwachte. Die Sonne schien mir direkt in mein Gesicht. Als ich begann meine Augen zu öffnen blendete sie nur etwas, da viele meiner langen Haare mein Antlitz bedeckten.

Ich erhob mich und erblickte mein Umfeld. Es war ungefähr Mittag. Die Wolkendecke vom vorherigen Tag war verschwunden.

Langsam begriff ich, was geschehen war. Die Dornen, der Wald und mit ihm die Ranken waren allesamt verschwunden. Es schien als wären sie zurück in den Boden gewachsen, so absurd dies auch klang. Ich begann mich aus Müdigkeit noch einmal zu strecken. Mein Glück konnte ich kaum fassen. Ich hielt das ganze Geschehen für eine Illusion oder einen Traum. Als ich mir jedoch in die Wange kniff, spürte ich einen Schmerz. Anscheinend war es die Sonne, vor der sich der Wald schützen musste. Als auch die letzten Wolken aus dem Schein der Sonne entschwanden, schien sich der Wald vor der Sonne zurückgezogen zu haben.

Dies war vielleicht meine einzige Chance. Ich musste sie nutzen. Ich begann weiter in Richtung meines Ziels aufzubrechen. Der Boden war noch von Laub und Ästen bedeckt. Es ist wahrlich ungewohnt, durch einen Wald ohne Bäume zu laufen. Aus der Ferne konnte ich ein gewaltiges Anwesen, wenn nicht sogar Schloss, erblicken. Ich rannte auf dieses Anwesen zu.

Aufgrund der fehlenden Bäume und Büsche, kam ich ungewohnt schnell voran. Es verging höchstens eine Viertelstunde, bis ich vor dem Schloss stand. Die Torwachen schienen zu schlafen, während das Tor offen stand. Die Rüstungen der Wachen waren von Rost bedeckt. Von dem unendlichen Schlaf hatte ich bereits gehört. Ich rechnete jedoch nicht damit, dass es wirklich eine völlig normale und gewöhnliche Art des Schlafens war. Während eine Wache zusammengekauert dort lag, grunzte die Andere beim Atmen und hatte alle Viere von sich gestreckt.

Das Schloss war staubig, aber keineswegs heruntergekommen und immer noch prunkvoll. Einem stach sofort die blutrote Farbe des Teppichs am Eingang entgegen. Gemälde zierten die Gänge. Als ich das Schloss erkundete, entdeckte ich immer wieder neue schlafende Bewohner. Die Jahrhunderte schienen sie nicht einmal angerührt zu haben. Selbst Vögel und Ratten schienen von dem Fluch betroffen zu sein. Ich hatte zuvor noch nie einen schlafenden Vogel auf dem Boden gesehen, er bot einen merkwürdigen Anblick. Die Krähe meines Meisters schlief zumindest auf einer Stange.

Mein Weg führte mich letztendlich zu einer schmalen Treppe, die ich emporstieg. Der Legende nach müsste hier die Tochter des verschollenen Fürsten zu finden sein. Tatsächlich fand ich an der Spitze des Turmes ein junges wunderschönes Mädchen schlafend vor. Sollte ich es etwa küssen? Würde so der Fluch gebrochen werden? Nein! Das war nicht real!

Es war der Wald… er spielte mit mir. Er hielt mich zum Narren. Schwarze Magie schert sich einen Dreck darum, die Schönheit ihrer Opfer zu waren. Niemals wäre der Zustand der Bewohner so tadellos gewesen. Ich sammelte alle Willenskraft in mir. Mit geballter Energie riss ich meine Augen auf.

Benommen erwachte ich ein weiteres Mal. In diesem Fall war es kein Traum. Ich erkannte es an der Wolkendecke. Sie würde niemals verschwinden, denn die dunkle Magie des Waldes erhält die Wolken, um sich vor dem Licht zu schützen. Diesen Aspekt hatte ich vollkommen vergessen.

Mein Blick war zum Himmel gerichtet.

Große Teile des Himmels waren von Ästen und Baumkronen bedeckt. Die Lichtung in der ich einst rastete… sie existierte nicht mehr.

Als ich zu mir kam, durchbohrte ein stechender Schmerz meinen Körper. Der Wald hielt mich wohl für Tage wenn nicht sogar Wochen in meinen Träumen gefangen. Nur mit Mühe gelang es mir, meine Kopf zu bewegen. Er fühlte sich so steif an.

Nachdem es mir gelang, einen Blick auf meinen rechten Arm zu werfen, presste sich ein kränklicher aber lauter Schrei aus meinem Kehlkopf. Mein Arm war kaum noch wiederzuerkennen. Komplett von Ranken und Ästen durchwuchert, bedeckte eine braunrote Masse aus geronnenem Blut und Schlamm meine Haut. Das Gefühl in meinem linken Arm ähnelte dem in meinem Rechten, weshalb ich weitere Anstrengungen mied auch einen Blick auf diesen zu werfen.

Stattdessen versuchte ich weiter nach unten zu blicken. Mein kompletter Körper war von Schmerzen durchdrungen. Auch mein Rumpf und meine Beine waren komplett durchwuchert und durchbohrt. Noch deutlich erschreckender war die Tatsache, dass ich in etwa 10 Metern Höhe zu hängen schien.

Ich war gescheitert. Welch dämliche Idee muss mich auch dazu getrieben haben, mich mitten in einem lebendigen und bösartigen Wald schlafen zu legen. Meine Kraft war dahin. Mein Wille war entschwunden. Nun würde ich genau wie die armen Seelen vor mir, auf ewig als lebende Leiche den Wald zieren, auf das meine Seele dem Wald als Nahrung diene.

All diese bemitleidenswerten Personen durften im Vergleich zu mir jedoch in ihrer Traumwelt glücklich leben. Es waren die Blüten. Zu Beginn meines Aufbruchs in den Wald schenkte ich ihnen noch keine Beachtung. Doch ihr Duft lässt einen träumen. Jeder Mensch träumt immer den gleichen Traum… Einen Traum, in dem er als strahlender Held die Prinzessin wach küsst, einen Traum in dem er der Auserwählte ist, vor dem die Dornenhecke wich. All die Opfer haben keine Ahnung von ihrer tatsächlichen Lage.

Ich hätte sie alle erlösen müssen. Ein solches Schicksal hatte keiner verdient. Doch ich war der Einzige, der aus der Traumwelt entkam. Ich dachte darüber nach, dass ich vielleicht auch der einzige sein könnte, der eine Chance hat wieder aus den Dornen zu entkommen.

Hoffnung gelangte in meinen Körper und kämpfte mit den sinnesbetäubenden Schmerzen in mir.

Ich blickte abermals nach unten. Mein Gepäck … es lag dort unten. Wäre es noch an meinem Rücken befestigt, wäre mir sicher noch ein Notfallplan in den Sinn gekommen. Mit einem Moment gewann der Schmerz in mir Oberhand und besiegte die Hoffnung komplett.

Es vergingen Tage, die ich elendig in den Ästen und Ranken gefangen war.

Trotz der Schmerzen drangen verschiedenste Gedanken in meinem Kopf: „Wird mein Meister enttäuscht von mir sein?“ Eigentlich war dies ein zutiefst absurder Gedanke.

Mein Meister liebte mich fast wie einen Sohn. Natürlich konnte er dies nie wirklich ausdrücken. Er war im Allgemeinen nie in der Lage seine Gefühle mitzuteilen. Viel mehr befürchtete ich, dass er sich auf die Suche nach mir begeben könnte, nur um ebenfalls in die Fänge des Waldes zu geraten. Ohne die Engelstränen stünden seine Chancen einerseits schlecht. Andererseits war seine Magie deutlich stärker als meine. Ich war neben Jakob einer der Wenigen, die ihm geblieben sind, nachdem seine ehemalige Schülerin Victoria verstarb. Ich wünschte, ich könnte mich noch genauer an Victoria erinnern. Sechs Jahre war ich alt, als sie das Leben aushauchte.

Ich erwachte aus meiner Starre. „Die Engelstränen!“, schrie ich laut auf. Mein Telekinesezauber war durchaus beachtlich.

Doch eine Tasche aus 10 Meter an mich zu ziehen, war für mich unmöglich. Selbst bei einer kleinen Phiole wäre es ein kräftezehrender Akt, der ein höchstes Maß an Konzentration bedarf. Mehrere Tage war ich nun gefesselt und meiner Kräfte beraubt. Auf meine Konzentration konnte ich mich somit nicht verlassen.

Vielleicht wäre es doch einen Versuch wert. Ich nahm meine letzten Kräfte zusammen und versuchte meine Hand zu bewegen. Kleinere Äste und Dornen, die in meine Hand eingedrungen waren, versuchten die Bewegungen meiner Hand zu stoppen. Als ich ruckartig meine Hand zu einer Faust ballte und sie rotieren ließ, rissen die Dornen blutige Wunden in meine Hand. Dennoch schien ich fast jegliches Empfinden für leichteren Schmerz verloren zu haben.

Meine Hand richtete ich auf mein Gepäck und so versuchte ich mich auf die Phiole in ihr zu konzentrieren. Nichts rührte sich. Ich vereinte all meine Kräfte, versuchte jegliche Energie aus meinen andren Körperteilen in meine Hand zu transferieren.

Ich scheiterte. Gerade als ich dabei war aufzugeben, spürte ich eine ungewohnte Wärme auf meiner Hand. Es fühlte sich an, als würden mir die Engel selbst helfen. Tatsächlich, die Tasche schien sich zu bewegen.

Aus ihr schwebte die Phiole in genau meine Richtung. Ich führte sie mit einer kurzen Bewegung meines Zeigefingers zu meinem Mund und biss zu. Mir waren die Schmerzen völlig gleich. Meine Arme zu befreien, wäre unmöglich gewesen. Ich schluckte die Scherben mit der Flüssigkeit zusammen herunter. Nur wenige Sekunden später erbrach ich Blut. Ich fürchtete, die Engelstränen ebenfalls mit zu erbrechen. Als ich aber realisierte, dass ich mich im freien Fall befand, entschwanden meine Befürchtungen.

Mit einem dumpfen Geräusch landete ich auf dem Boden. Ich weiß nicht, wie viele Knochen ich mir dabei gebrochen hatte, doch es dauerte ewig, bis ich in der Lage war, mit Hilfe meiner Arme aufzustehen. Mein Rumpf war immer noch von Ranken durchbohrt. Ohne Mithilfe meiner Arme wäre ich nicht mehr in der Lage gewesen zu stehen. Um sie jedoch dazu zu verwenden, die Ranken aus mir heraus zu ziehen, ließ ich mich wieder auf den Boden fallen.

Mit lauten Schmerzensschreien entfernte ich eine Ranke nach der Anderen. Große Mengen Blut quollen aus den Wunden. Im Normalfall hätte ich längst verbluten müssen. Allgemein wäre mein Körper bereits nach dem Fall viel zu sehr zerstört gewesen, um überleben zu können. Was mich auch immer am Leben hielt… es war immer noch in mir. Oder vielleicht war es genau das selbe, was jede andere Seele im Inneren des Waldes am Leben erhielt.

Schwer verwundet und ohne Gepäck trat ich ein letztes mal meinen Weg zu meinem Zielort an. Aufgrund meiner schwachen Beine benötigte ich für ein paar hundert Meter fast eine Stunde. Auch wenn sich das Anwesen nur noch wenige Kilometer entfernt befand, dauerte es einen ganzen Tag, bis ich es endlich erreichte.

Die Engelstränen in mir schützten mich vor jeglicher Art der schwarzen Magie. So mied mich auch der Wald und gewährte mir den Durchgang. Die Wirkung war jedoch zeitlich begrenzt. Bereits nach wenigen Stunden bemerkte ich, dass der Griff des Waldes mir immer näher kam. Zu meinem Glück fand ich einen langen Ast, der sich perfekt als Krücke eignete.

Endlich war ich fast am Ziel angelangt. Aufgrund der Dichte des Waldes wäre ich fast daran vorbeigelaufen. Stücke von Steinen und Schutt wiesen mir letztendlich den Weg zum Anwesen.

Auch wenn mein Körper nur noch eine Ruine war, ich hatte es tatsächlich geschafft. Jeglicher Erwartung zum Trotz stand ich vor dem Schloss. Es unterschied sich drastisch von der Version aus meinem Traum. Nichts erinnerte mehr an den damaligen Reichtum des Fürsten. Große Teile des Gebäudes waren bereits eingestürzt und die Glasscheiben schienen über die Jahrhunderte von dem Wald, dessen Wurzeln und Äste in das Schloss wuchsen, zerbrochen zu sein. Die hölzernen Türen des Eingangs waren komplett eingerissen und nur noch Bruchstücke erinnerten an die einst riesigen Holztore.

Unter dem Schutt der Tore vernahm ich eigenartige Laute. Wäre mir noch etwas Kraft geblieben, hätte ich damit begonnen, mich durch den Schutt zu graben, um den Geräuschen nachzuforschen. Meine schlechte physische Verfassung zwang mich jedoch in einen nachdenklicheren Zustand. Ich ahnte, was sich wahrscheinlich unter dem Schutt befand.

Es waren die immer noch lebendigen und schlafenden Überreste einstiger Torwachen, die vergeblich nach Luft schnappten.

Das Innere des Anwesens war farblos und deprimierend. Mitten im Vorraum schlief einer der Bediensteten, falls man diesen Zustand noch als schlafend bezeichnen möchte. Die Haut der Person war ledrig und braun, ähnlich derer, die sich einst vom Wald einspinnen ließen. Reste von Kleidung und Haar waren noch zu erkennen. Die Augen waren hingegen zu kleineren schwarzen Kugeln zusammengetrocknet. In regelmäßigen Zeitabständen ging von der Person ein lautes Keuchen und anschließendes Grunzen aus. Wahrscheinlich war dies ein vergeblicher Versuch, trotz verkümmerter Atemorgane nach Luft zu schnappen. Es waren aber auch die Laute eines Menschen, dem es nicht erlaubt war aufzuwachen und der gezwungen war bis in alle Ewigkeit zu schlafen.

Ich hätte ihn erlösen können. Ein jahrhundertelanger Schlaf zieht an keinem unbeschadet vorbei.

Meine Erschöpfung hinderte mich, ihn zu töten. Ein Stich durch die harte Schädeldecke oder gar eine Enthauptung wären von Nöten gewesen, doch hierfür fehlte mir einfach die Kraft. Dennoch bückte ich mich über das Opfer und hielt ihm den Mund zu. Obwohl der Atem der Person stoppte, wusste ich, dass sie so nicht sterben konnte. Gerade in dem Moment, als der Mensch vor mir verstummte, bemerkte ich ähnliche Geräusche, welche ihren Ursprung aus den unterschiedlichsten Winkeln des Schlosses hatten.

Mir gelang es noch, meine schweren Beine bis zur Treppe des Vorraums zu transportieren. An den Stufen scheiterte mein geschundener Körper und ich brach zusammen.

Man könnte jetzt vermuten, ich würde wieder durchbohrt von Ranken und Anderem erwachen. Da ich jedoch die Engelstränen verschluckt hatte, erwachte ich wider Erwarten auf den Treppen. Ich hatte keinen zusätzlichen Kratzer… Im Gegenteil, ich fühlte mich stärker und fitter. Mir gelang es sogar wieder aufzustehen. Ich habe bis heute keine Ahnung wie lange ich genau auf den Treppen schlief. Ich weiß noch, dass es ein traumloser Schlaf war.

Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und stieg vorsichtig die staubigen Treppen empor.

Als ich meine Beine anblickte, war mir nicht klar wie ich überhaupt noch laufen konnte. Meine Beine ähnelten denen eines zerstückelten Mordopfers. Sie waren übersät von Wunden und Löchern, durch die sich einst die Ranken bohrten. Eine Wunde an meinem rechten Bein war so tief, dass man Teile des Knochens erkennen konnte. Dennoch bluteten sie nicht mehr.

Als ich auch die letzte Stufe der Treppe überwunden hatte, betrat ich den oberen Flur. Er war in absolute Finsternis gehüllt. Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich auf einen Punkt in mir, bis ich sie ruckartig wieder aufriss und etwas murmelte. Eigentlich wollte ich etwas rufen, doch ich überschätzte meine beschädigten Stimmenbänder. Auch wenn mein Gemurmel nur schwer verständlich war, entsprang eine schwache Flammenbrunst aus meinem Körper und entzündete einige der Fackeln. Obwohl der Flur nun größtenteils beleuchtet war, verhinderte ein Nebel aus Staubpartikeln in der Luft eine freie Durchsicht.

Je tiefer ich mich in das Innere des Schlosses wagte, desto verfallener wirkte es. Teppiche waren ohne Farben und Fackeln waren erloschen. Viele Möbel und Dekorationen schienen komplett zerstört worden zu sein. Die einstigen Bewohner waren alle in einem bemitleidenswertem Zustand.

Stets geriet ich an Sackgassen. Oft geschah dies dadurch, dass der Boden vor mir eingestürzt war und ich so freien Blick auf das Zimmer im unteren Stockwerk hatte. Ich hielt mich nicht lange mit dem Erkunden des Schlosses auf. Ich wollte endlich nach Hause zurückkehren. Ich vermisste die Ermahnungen meines Meisters. Ich vermisste sogar meine Ratte, die unter meinem Bett wohnte und der ich heimlich immer etwas zu Essen abgab.

Und selbst Jakobs besserwisserische Art vermisste ich. Noch nie in meinem Leben fühlte ich mich so einsam wie zu diesem Zeitpunkt. Nicht einmal Tieren bin ich begegnet, da der Fluch auch sie traf.

Laut meinem Meister wäre das eine Mädchen der Schlüssel zu Allem. Mein Meister erzählte mir nur, dass es sich bei dem Mädchen um die Tochter des einst so mächtigen Fürsten handelte, der einst aus den Geschichtsbüchern getilgt wurde und von dessen Schicksal nur noch Legenden erzählten.

Barden und Lyriker veränderten die Sage zu einer kitschigen Liebesgeschichte. Doch auch ihre Geschichten handelten von dem einen Mädchen, welches man in einem der Türme des Schlosses antreffen könnte. Nun ja, nur ein einziger Turm in der Mitte des Schlosses hatte die Jahrhunderte überdauert. Meine Auswahl war somit wahrlich begrenzt.

Aufgrund der vielen Umwege dauerte es eine Weile, bis ich die Schlafgemächer des Fürsten in der Mitte des Schlosses vorfand. In einer Ecke lag ein Butler neben den Überresten eines einstigen Holzstuhls. Auch das Bett war eingestürzt, wenn auch die Bettwäsche überraschend gut erhalten war.

Wer jedoch fehlte, war der Fürst selbst.

Neben dem Bett befand sich eine kleine Holztür. Ich wollte sie öffnen, merkte jedoch schnell, dass sie mit einem komplexen Eisenschloss verriegelt war. Einfache Schlösser sind für einen Magier nicht schwer zu knacken. Doch bei größeren Schlössern bedarf es grober Gewalt. Ich entfernte mich etwa 4 Meter von der Tür und richtete meine Hand auf sie. Anschließend ballte ich meine Hand zu einer Faust. Ich konzentrierte mich und stieß eine Salve meiner stärksten Windstöße aus meinem Arm. Der Rückstoß brachte mich nach etwa 20 Schüssen zu Fall.

Benommen richte ich mich auf und blickte um mich. Staub in der Luft versperrte mir jegliche Sicht. Ich spürte einen stechenden Schmerz in meinem Arm. Nach meinem Zusammenbruch im Vorraum waren die alten Schmerzen größtenteils überwunden. Doch der Rückstoß riss diese Wunden in meinem Arm erneut auf.

Langsam wurde der Nebel schwächer. Ich erhob mich unter Anstrengungen und blickte auf den völlig ramponierten Eingang zu einer engen Wendeltreppe. Noch einmal schaute ich mich um. Ich fragte mich warum sich der Eingang zu einem Turm direkt in den Schlafgemächern des Fürsten befand. Und weshalb war das Schloss verriegelt?

Während ich mir den Kopf über genau diese Fragen zerbrach, bestieg ich langsam die Treppe.

Die Treppe schien endlos. Stufe für Stufe kämpfte ich mich empor. Ich begann sogar zu kriechen, da ich in den Armen noch deutlich mehr Kraft hatte. Ein lautes aber entspanntes Stöhnen entwich meiner Lunge, als die Treppe endete und ich einen schmalen Raum an der Spitze des Turms vorfand. Der Turm endete mit einem schmalen Raum. Ich vermute, dass er etwa 25 Quadratmeter groß war.

Mitten im Raum befand sich ein Bett. Ansonsten konnte ich mich außer an einen verstaubten aber unbeschädigten Spiegel an nichts dort oben erinnern. Das Holz des Bettes war alt und moderig, dennoch hielt es das Bett zusammen. Allgemein war das Zimmer steril und farblos. Das Bett war bei Weitem kein prunkvolles Himmelbett.

Kissen und Decke waren bei Seite gerissen. Das Bett selbst war komplett leer. Ich war am Ende meiner physischen Kräfte, doch meine Psyche war voller Tatendrang.

Ich war nun nicht mehr allein davon getrieben, den Fluch des Schlosses zu bannen. Ich wollte nun zusätzlich herausfinden, was es genau mit der Sage auf sich hatte und weshalb der Fluch überhaupt entstanden war.

Ich war noch nie in einem körperlich miserableren Zustand. Es ist der Staub der Rosenblüten, der einen am Leben erhält. Ansonsten wäre ich bei meinen Verletzungen längst verstorben. Doch der Geist des Waldes ernährt sich von den Seelen seiner Opfer. Hierzu ist er nicht mehr in der Lage, wenn seine Opfer sterben.

Die Sulphuera acicularis ist eine Pflanze, die die Lebenszeit eines Menschen um wenige Minuten erhöhen kann. Ich will mir gar nicht vorstellen, in welchem Maße die Pflanze mutiert sein muss, da sie im Normalfall die Blüte eines unbestachelten Rosenbusches ist. Auch ist der Effekt der Lebenserhaltung bei Weitem nicht so lange. Die Opfer lebten immer noch, obwohl sie sich schon vor hunderten von Jahren in den Dornen verfangen hatten.

Auf alle Fälle war es meine Pflicht, mit Proben der Blüte nach Hause zurückzukehren.

Nach Hause…

Als ich seit Langem wieder an meine Heimat dachte, drang die Heimweh wie ein Dolchstoß in mein Herz ein.

Wie lange war ich auf meiner Mission? Mir war nicht bewusst, wie lange mich der Wald gefangen hielt oder über welchen Zeitraum hinweg ich auf den Treppen des Schlosses schlief.

Als ich in den Spiegel des Zimmers schaute, fror ich für wenige Sekunden ein. Was war mit mir passiert ?

Warum sah ich so aus ?

Hübsch war ich gewiss noch nie, doch nun erinnerte ich an ein Wesen, welches kleine Kinder in ihren Albträumen verfolgt. Meine Haare waren noch das Menschlichste an mir. Sie waren filzig und ungepflegt. Meine Lippen waren aufgerissen. Mein Gesicht war voller Narben. Es waren keine Wunden, die ein paar Stunden oder Tage alt waren. Es waren verheilte Narben, die mein Gesicht bedeckten.

Und ich frage mich erneut: „Wie viel Zeit ist vergangen, seitdem ich mich aus den Dornen befreit hatte?“

Könnte ich überhaupt in meinem Zustand außerhalb des Waldes überleben? Ich beschloss meine Gedanken anderen Dingen zuzuwenden und somit richtete sich mein Blick abermals auf das Bett.

Mit meiner bloßen Körperkraft wäre ich nicht in der Lage, es zu verschieben. Meine Telikenesezauber waren hingegen schon immer außerordentlich gut und besonders auf kurze Distanz ist die Anwendung solcher Zauber alles andere als schwer.

Mit geschlossenen Augen begann ich mich auf das Bett zu konzentrieren. Ich hatte bereits eine Menge in diesem Anwesen zerstört und war Willens behutsamer vorzugehen, aus welchem Grund auch immer.

Langsam schob ich das Bett in meinen Gedanken gegen die rechte Wand. Als ich hörte, wie das Bett die Wände des Turms berührte öffnete ich wieder meine Augen.

Das Bild, welches meine Sinne vor mir erschufen, brachte mich endgültig zu Fall. Als ich nun dort lag und gegen die Decke des Turmes blickte, begann ich langsam zu realisieren was ich gerade sah.

Eine Frage drängte sich in das Innerste meiner Gedanken, um mein Bild von der Welt und den Menschen zu zerstören.

„Warum hat er das getan?“

„Sie war seine Tochter! …warum hat er sie umgebracht?“

Auch wenn ich den Fürsten bis jetzt zuvor nur auf Gemälden gesehen hatte und die Verderbnis auch ihn nicht verschonte, erkannte ich sofort seine Gesichtszüge. Selbst in einem solchem Zustand wie seinem, erkannte ich ihn… und ich erkannte auch, was er versucht hatte. Seine Hände umschlungen den Hals einer weiteren Person.

Sein Körper bedeckte eine zierliche und viel kleinere Gestalt. Ich erkannte noch die gelb-goldenen Haare die unter seinem schwarz-rotem Gewand herausragten.

Natürlich dauerte es etwas, bis ich meine Ruine von Körper wieder aufrichten konnte. Der Anblick verursachte ein kalte und erschütternde Trauer in mir, doch ich war nicht mehr in der Lage, auch nur eine einzige Träne aus meinen glasigen, trockenen Augen zu pressen.

Mit vorsichtigen Schritten näherte ich mich dem menschlichen Monster. Der Fürst und Besitzer des Anwesens war schon zu Lebzeiten wohlbeleibt, doch schien sich sein Körper nach seinem Tod noch weiter aufgebläht zu haben, vergleichbar mit dem einer Wasserleiche.

Vorsichtig wendete ich erneut meinen Telikenesezauber an. Nun war jedoch Vorsicht geboten, um der kleinen zerbrechlichen Gestalt die unter ihm lag nicht zu schaden. Der Mann besaß ein beachtlich leichtes Körpergewicht. Nur wenig Mühe war von Nöten um den großen Körper anzuheben und fortzuschaffen.

Vor mir lag ein junges Mädchen im Alter von etwa 15 Jahren. Ihre immer noch goldenen und glänzenden Haare zeugten einst von ihrer Schönheit. Sie besaß immer noch volle Lippen die jedoch aufgrund der langen Zeit schwarzbraun waren. Ihre raue und ledrige Haut war im Vergleich zu den anderen Bewohnern des Schlosses aschgrau. Ihre dunkelgrauen Gewänder schienen von einem Menschen unbeabsichtigt zerrissen worden zu sein.

Ich führte meine Hand etwa 10 Zentimeter über ihren Mund um ihren Atem zu überprüfen. Er war schwach aber vorhanden. Anders als die übrige Belegschaft des Schlosses, hörte sich ihr Atem weniger nach dem eines Todkranken an. Ich überlegte, ob es eine Möglichkeit gäbe, sie – jeglichem Realismus zum Trotze – wiederzuerwecken.

Das Mädchen unterschied sich von den übrigen Opfern des Fluches auf so drastische Weise. Ich konnte noch das Menschliche in ihr erkennen. Auch plagte mich die Frage, warum der eigene Vater vorgehabt hatte, sie zu ermorden.

Eines war offensichtlich. Dieses Mädchen war der Schlüssel zu all meinen Fragen.

Mir war anfangs nicht bewusst, wie ich sie genau erwecken konnte. Dennoch war es von Nöten das Mädchen wieder in einen Zustand zu bringen, in dem sie zumindest nicht sofort ihrer physischen Schwäche erliegt, wenn sie erwacht.

Meine Arme waren schwach und fühlten sich leer an. Dennoch war das Mädchen unglaublich leicht. Ich nahm es auf den Arm, da mir ein weiterer Telikenesezauber nicht die nötige Sicherheit gäbe, ihren Körper zu schonen. Es fühlte sich an, als würde ich eine größere Puppe tragen. Man spürte förmlich, wie wenig Leben in ihr war.

Die Treppen hinunterzusteigen gestaltete sich für mich trotz des zusätzlichen Gewichtes deutlich einfacher, als sie emporzusteigen. Selbst der Weg zum Innenhof war keine Hürde, da er sich in der Nähe des Turms befand.

Das Atmen der frischen Luft tat gut. Der Innenhof war außerordentlich groß. Der Anblick von einem Fleck Natur, der von den Ranken und Dornen gänzlich unberührt blieb, war fast schon ungewöhnlich. Gerade diese Gefühle verdeutlichten mir, wie lange ich bereits auf meiner Mission war. Es war bestimmt schon ein paar Monate her, seitdem ich mich von meinem Meister verabschiedet hatte, um mich meiner finalen Mission zu stellen.

In der Mitte des Hofes befand sich ein Springbrunnen. Auch wenn er nicht mehr funktionierte, beinhaltete er immer noch eine große Menge an Wasser. Als ich meine ersten Schritte auf dem grünen Boden des Innenhofs vollführte, drangen Gräser in meine löchrigen Schuhe und streichelten auf merkwürdig, angenehme Weise meine Füße. Es war ein schönes Gefühl, die Natur ohne magischen Einfluss zu erleben.

Ich setzte den Körper des Mädchens neben dem Brunnen ab und setzte mich auf den, aus Marmor bestehenden, Rand des Brunnens. Ich verweilte etwas und schaute in den Himmel. Es war ein herrlicher Ausblick. Es wirkte als würden die kleinen Wolken sich gegenseitig zum Tanz auffordern, während die große Wolkendecke, die den ganzen Himmel bedeckte, eine riesige Tanzfläche bildete.

Meine Tragträumerei wurde durch Laute gestört, deren Existenz ich an so einem Ort für unmöglich hielt. Es war das Krächzen einer Krähe.

Natürlich… Krähen, die Überbringer des Unheils und Verkünder des Todes, sie waren immun gegen die Flüche schwarzer Magie. Ich war schon immer der Überzeugung, dass Raben und Krähen die schönsten Vögel überhaupt waren. Ich wünschte, ich hätte ein Stück Brot oder Ähnliches dabei gehabt, um das Tier herzulocken.

Dies war nicht einmal von Nöten. Als mich der schwarz gefiederte Vogel, der sich auf der Spitze des Daches befand, erblickte, verfiel er in eine Starre des Unglaubens. Wahrscheinlich hatte er vor mir noch nie einen lebenden oder zumindest wachen Menschen gesehen.

Er verdrehte stumm seinen Kopf, abwechselnd in beide Richtungen, bis er schließlich in meine Richtung geflogen kam. Ein paar Meter vor mir stoppte er und blickte mich abermals ungläubig an.

„Wen haben wir denn hier“, flüsterte ich in sanftem Ton, während ich meine Hand in seine Richtung hielt. Die Krähe schien sich jedoch an mir satt gesehen zu haben und begann bereits nach etwa einer halben Minute wieder ins Ungewisse zu fliegen.

Es war trotz allem ein unbeschreibliches Gefühl, wieder etwas kennenzulernen, dass noch zu etwas anderem als dem bloßen Existieren in der Lage war. Endlich lohnte es sich mal wieder zu sprechen, auch wenn es nur ein Tier war, welches mit meinen Worten nur geringfügig etwas anfangen konnte.

Meine Augen wendeten sich nun dem Brunnen zu. Nach all den Strapazen war es selbst für einen Magier mal wieder an der Zeit zu trinken. Das Wasser des Brunnens war bräunlich-trüb, Ich näherte mich mit meinem Kopf dem Wasser und begann zu trinken. Das Ganze sah gewiss nicht edel aus, doch wäre ich mit meinen zittrigen Händen nie in der Lage gewesen, Wasser aufzufangen.

Es dauerte, bis mein Durst gestillt war. Als ich meinen Kopf wieder erhob und nach rechts blickte, überkam mich mein schlechtes Gewissen. Das arme Mädchen lag dort als wäre es weggeworfen worden. Obwohl mich mein Meister stets gelehrt hatte, die eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken, war ich meinen Trieben nachgegangen, anstatt mich um die zu kümmern, die meiner Hilfe bedürfen.

Vielleicht würde sich der Zustand des Mädchens verbessern, wenn ich ihr etwas zu Trinken geben könnte. Ihr Schluckreflex könnte immer noch funktionierten. Ich benötigte eine Schale oder irgendein Gefäß, um Wasser aufzufangen. In meinem Rucksack befanden sich noch leere Phiolen, doch ich hatte mein Gepäck im Wald zurückgelassen.

Ich überlegte und grübelte über die Funktionen meines Telikenesezaubers. Wäre er auch in der Lage Flüssigkeiten zu bewegen? In den Geschichten der legendären Magier wurde beschrieben, wie sie komplette Seen mit Hilfe der Telekinese verlagerten. Auch wenn man allein durch den Gebrauch von Wasser wahrscheinlich nicht in der Lage ist, einen solchen Fluch zu brechen, täte es der Kleinen sicher alles andere als schlecht.

Ich brauchte trotz allem nur meine Gedanken zu sortieren, als ich realisierte wie sehr meine magischen Kräfte am Ende waren. Selbst erfahrene Magier mussten selten ihrem Körper und Geist eine solche Belastung zumuten.

Auch wenn es vielleicht nicht die angenehmste Art war, den Umstand zu lösen, beschloss ich mich wieder in das Schloss aufzubrechen, um nach einem Gefäß oder ähnlichem zu suchen.

Ich bemerkte es jetzt, wie wunderschön der Eingang des Innenhofes war. Die Eingangstür zierte ein Steinerner Rahmen, der noch Überreste einer Goldlegierung aufwies. Auffälliger war eine kleine Statue des Effari, Gott der Wildnis.

Eigentlich war der Besitz einer solchen Statue verachtet, zumindest zu meiner Zeit. Es waren schließlich kannibalische Werwölfe, die viele Dörfer unter seinem Banner auslöschten. Doch etwas war besonders an dieser Statue. Warum weinte sie ? Effari wurde stets als gefühlskalte riesige Bestie dargestellt. Doch in diesem Falle saß er auf einem Felsen und trauerte.

Ich hatte der Statue genug Beachtung geschenkt und ging weiter voran. Auf den kalten Empfang der Marmorfliesen hätte ich gerne verzichtet. Der Innenhof war tatsächlich das einzige was am Schloss oder sogar der gesamten Länderei als angenehm zu empfinden war. Das Innere des Schlosses vermittelte mir durch den Reichtum an Grautönen wieder das Gefühl der Ungeborgenheit.

Zu meiner Erleichterung dauerte es nicht lange, bis ich einen der bemitleidenswerten Dienern des Schlosses eine leere Flasche abnehmen konnte. Genauer gesagt waren es sogar nur wenige Meter.

Wieder im Innenhof angekommen, lehnte ich das Mädchen gegen den Brunnen.

Ich nahm die Flasche, welche ich an meinem Gürtel befestigt hatte, hervor und tauchte sie im dunklen Wasser des Brunnens unter. Es war gar nicht nötig, sie komplett zu füllen.

Anschließend lehnte ich die Öffnung an ihre Lippen und ließ ein paar Tropfen in ihren Mund laufen. Bereits die ersten Tropfen verformten die ausgetrockneten Strukturen ihrer Lippen.

Als ich keine bemerkenswerte Reaktion feststellte, ließ ich größere Mengen aus der Flasche in ihren Mund laufen.

Sie schluckte. Zufrieden wartete ich, bis die komplette Flasche Wasser geleert war. Auch ihr Atem schien sich verstärkt zu haben. Ich machte mir Hoffnungen, sie vielleicht doch bald wieder erwecken zu können.

Trotz des Fortschritts konnte ich auf diese Weise den Fluch nicht brechen. Ich benötigte Antworten auf meine Fragen. Nur so könnte ich zum Ziel gelangen.

Voller Entschlossenheit stand ich auf, um mich abermals ins Herz des Schlosses zu wagen. Mein Meister hatte mich einst gelehrt, wie man die Geschichte verlassener Orte erfahren kann. Es mussten irgendwo im Schloss Aufzeichnungen enthalten sein.

Ich fühlte förmlich, dass sich meine Beine bereits regenerierten. Es waren vielleicht noch die letzten Wirkungen der Engelstränen, die positiv zu meiner Regeneration beitrugen.

Im Flur des Schlosses traf ich erneut auf den Bediensteten, dem ich ein paar Minuten zuvor noch die Flasche abgenommen hatte. Es war ein Mann ungefähr im Alter von 50 Jahren. Genau ließ sich sein Alter aufgrund seines Zustandes nicht mehr einschätzen.

Er saß auf den Überresten eines eingestürzten Holzstuhls und war mit dem Kopf gegen ein leeres Regal gelehnt.

Ich bemerkte, dass ich noch die Wasserflasche mit mir führte, in der sogar noch geringe Mengen enthalten waren.

Ich versuchte der Person vor mir etwas Wasser zuzuführen.

Als ich jedoch nur eine verschwindend geringe Menge von Wasser in seinen Mund laufen ließ, entgegnete mir der Mann mit einem ungeheuren Husten und Keuchen. Obwohl sich sein Gesichtsausdruck kaum veränderte, klang er, als wäre er kurz vor dem Ersticken.

Ich schreckte sofort zurück. „Warum hat er das Wasser nicht einfach geschluckt?“, fragte ich mich.

Anscheinend war er gar nicht erst in der Lage irgendetwas zu schlucken.

„Es könnte von Person zu Person unterschiedlich sein… vielleicht haben nur manche ihre Fähigkeiten mit der Zeit eingebüßt…“

Ich wanderte durch die Flure des Anwesens auf der Suche nach dem nächsten Bediensteten. Als ich auf eine zusammengekauerte Frau in einer Ecke des Flures stieß, beschloss ich den Vorgang zu wiederholen. Ich musste ihren Kopf in meine Richtung drehen, da ihr Gesicht zur Wand gerichtet war. Sie erinnerte mich an ein lebendes Skelett. Augen und Nase fehlte komplett und ihre Lippen waren zu kleinen Streifen zusammengeschrumpft. Auch wenn mich ihr Anblick erschrak, hielt ich mich nicht zurück und versuchte ihr ebenfalls etwas Wasser zu verabreichen.

Die ersten Sekunden lösten Erheiterung in mir aus, als ich merkte, dass sie durch die Wassertropfen nicht zu husten begann. Als ich jedoch die Menge nur um die geringste Menge erhöhte, erlag auch sie einem gewaltigem Hustenanfall.

„Was geht hier vor!“, schrie ich entsetzt.

Warum funktionierten einfache körperliche Funktionen nur noch bei diesem einen Mädchen ? Als sich in meinem Kopf die Puzzleteile zusammenfügten, ergriff die eiskalte Hand des Schocks meinen Nacken. Das Mädchen schlief nicht.

Vermutlich war sie niemals wirklich eingeschlafen.

Doch warum war sie nicht vom Fluch betroffen?

Und warum war sie nicht ansprechbar? Auf diese Frage gab es nur eine Antwort.

Sie musste selbst der Auslöser für den Fluch gewesen sein. Doch war sie eine Hexe? Wäre sie mit einem Dämonen im Bunde gewesen, wäre ihr Aussehen ein anderes. Die Hexen, die mir einst mein Meister beschrieb, besaßen kaum noch ein einziges Haar und waren von einer fürchterlichen und stinkenden Fäulnis umgeben.

Außerdem konnte ich mir immer noch nicht erklären, woraus die Ranken des Waldes ihre Intelligenz erhalten haben. Mir war lediglich ein schwarzes Ritual bekannt, in dem der Anwender sein Leben und seine Seele opferte, um diese in ein Objekt oder Lebewesen zu übertragen.

Mir wurde immer deutlicher, dass ich all diese Rätsel nur lösen konnte, indem ich das Mädchen aufwecken würde um es selbst zu befragen…. falls sie überhaupt in der Lage war zu sprechen.

Voll von Grübelei und Gedanken wanderte ich zurück in den Innenhof. „Vielleicht ist sie einfach nur bewusstlos“, dachte ich mir zu diesem Zeitpunkt. Ein ziemlich absurder Gedanke, wenn man bedenkt, dass es kein Lebewesen gibt, das mehre Jahrhunderte bloß „bewusstlos“ ist. Kurz bevor ich den Ausgang zum Innenhof betrat, zerquetschte ich unter meinem Fuß eine gewöhnliche Stubenfliege, welche sich wie alles im Schloss nicht bewegte. Als ich meinen Fuß anhob, befand sich darunter nur noch ein Haufen Staub. Als ich beobachtete, wie die Staubpartikel durch einen leichten Windstoß davon rieselten, erklommen die verschiedensten Ideen über den Zustand des Mädchens mein Bewusstsein. War sie einfach nur ausgetrocknet? Hat sie sich selbst in diesen Zustand versetzt, um einen Tod aus Durst oder Hunger zu entgehen? Doch die Blüten des Waldes haben bis jetzt keine der armen Seelen aus dem Käfig des ewigen Lebens entkommen lassen.

Als ich meinen von Fragen befüllten Schädel anhob und in Richtung des Brunnen blickte, begann meine Beine mit einem Zittern, welches anschließend durch alle Glieder meines Körpers wanderte.

„Wo zur Hölle ist sie? Ich hatte sie doch gerade dort hinten abgelegt!“ fragte ich mich. „War sie die ganze Zeit wach? Nein! Ich hatte sie doch gefunden, als ihr Vater seine Hände um ihren Hals gezerrt hatte.“

Ich begann in einer Kurve um den Brunnen zum anderen Ende des Hofes zu gehen. Wäre mein Zustand besser, wäre ich wahrscheinlich sogar gelaufen.

Ein kurzer Blick hinter den Brunnen reichte aus. Dort fand ich sie. Sie kroch in Richtung einer Statue, die wohl ein Abbild von Galago war, den wir als den höchsten und ältesten aller Engel erachten. Sie gab Geräusche von sich, die an ein Weinen erinnerten, während sie nur mit den Händen voran kroch. Langsam drehte sie ihren Kopf in meine Richtung. Sie stieß etwas Undefinierbares aus sich heraus, was in etwa an einen verzweifelten Schrei erinnerte und begann verzweifelt ihre Entfernung zu mir zu erhöhen.

Eine Mischung aus Erleichterung und Furcht machte sich in mir breit. Vorsichtig näherte ich mich ihr. Ihre Bewegungen waren schwach und unbeholfen. Es hätte Minuten gebraucht, bis sie auch nur einen weiteren Meter zurückgelegt hätte.

Ich bewegte mich einige Meter weiter um sie einzuholen. Sie sie stoppte und erhob ihren Kopf als sie bemerkte, dass ich direkt vor ihr stand. Pechschwarze Augen, welche unter dem geringen Licht, welches die Wolken durchließen, glänzten, blickten mich an. Vermutlich war es uraltes Blut welches ihren Farbton bestimmte. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie überhaupt etwas erkennen konnte, doch ihre Augen blickten genau in meine.

„Bitte, du musst dich beruhigen! Ich bin nicht hier, um dir weh zu tun. Keiner kann dir mehr weh…“ Ich brach meinen Versuch einer Konversation ab, als ich bemerkte, dass sie ebenfalls versuchte zu sprechen. Die Worte, die sie mit ihren trockenen Lippen zu formen versuchte, wirkten wie die Laute einer Schlange. In ihrem Mund befanden sich keine Zähne. Nur ein paar schwarze Stummel schauten aus ihrem Zahnfleisch heraus. Auch ihre Zunge war kaum noch als solche zu erkennen.

Verzweifelt überlegte ich, wie ich diesem armen Ding nur helfen könnte. Mehr Wasser hätte wenig Nutzen gehabt und auch Essbares gab es im Schloss nicht. Tatsächlich fand ich die einzige Möglichkeit darin, ihr ein paar von meinen letzten Energiereserven zu übertragen, auch wenn dies mein Leben kosten könnte.

Eigentlich war ich mir zu diesem Zeitpunkt schon fast sicher, dass eine Energieübertragung meinen Tod bedeuten würde, doch mir blieb keine andere Wahl, wenn man bedenkt wie viel ich für diese Mission geopfert hatte.

Bereit mein Leben zu opfern, kniete ich mich vor ihr hin und legte meine Hand auf ihren Kopf. Sie versuchte immer noch vergeblich zu Reden, doch ihre Sprache klang immer unmenschlicher.

Ich sammelte die Energien in meinem Körper zusammen. Meine Augäpfel leuchteten in grellem Saphirblau auf. Ich spürte wie ich selbst meinem eigenen Körper das Leben aussaugte.

Mein Blickfeld wurde schwarz, als ich realisierte, dass ich die Prozedur zu lange durchgeführt hatte.

Als ich am Boden lag, erkannte ich noch die Silhouette einer Person, die sich aufrichtet. Wenige Sekunden darauf verlor ich mein Bewusstsein.

Wenn mich jemand nach der offensichtlichsten Eigenschaft des Menschen fragt, kommt mir sofort die Undankbarkeit über das Selbstverständliche in den Sinn. Sind wir ausreichend versorgt, erachten wir Nahrung als selbstverständlich. Besitzen wir Reichtum, verstehen wir unter Münzen nur ein Mittel. Sind wir einflussreich und mächtig, werden wir herablassend und arrogant, während Zustand und Leben unserer Mitmenschen für uns immer bedeutungsloser wird. Viele Magier gaben ihr Leben, um die Unschuldigen und Bedürftigen zu retten. Dennoch werden wir bis in die heute Zeit verfolgt und hingerichtet. Es ist nicht nur Undankbarkeit, sondern sogar Angst, die Menschen der Wahrheit entgegenbringen. Nur weil wir in der Lage sind die Wahrheit zu erfassen will man uns auslöschen.

„Hier… bitte trink dass…“ waren die ersten Worte, die ich einer leisen, dünnen Stimme entnehmen konnte. Als ich meine Augen öffnete, blickte ich in kugelrunde grüne Augen, ähnlich den Meinen. Meine Sicht wurde klarer und ich erkannte das ledrige aschgraue Gesicht des Mädchens, welches vorher nicht einmal Im Stande war ein Wort verständlich zu vermitteln. Ihre Augen hatten Farbe bekommen und auch ansonsten wirkte sie ein wenig menschlicher.

Als ich meinen Mund öffnen wollte, um mit dem Sprechen zu beginnen, presste jemand eine Schüssel ungeschickt zwischen meine Lippen. „Bitte trink das“, hörte ich abermals. Widerwillig schluckte ich die Flüssigkeit, die sich als gewöhnliches Wasser entpuppte. Obwohl es nur Wasser war, fühlte ich, wie sich meine Glieder mit neuer Energie füllten.

Langsam kehrte Gefühl in meinen Körper zurück. Als ich meinen Kopf bewegte, merkte ich das ihn das Mädchen über ihre Knie gelegt hatte, damit ich mich nicht verschlucken konnte.

Ich errötete vor Scham, als ich dies realisierte. Dank meines Meisters, fehlte mir jede nennenswerte Erfahrung mit anderen Menschen. Jacob war neben mir der einzige, den Meister noch unterrichtete, dessen Anwesenheit mir jedoch stets zuwider war.

Unsere Ausflüge führten uns stets in verlassene Wälder oder Gebirge. Trafen wir dennoch auf andere Menschen, waren wir gezwungen, das Reden unserem Meister zu überlassen. Ein falsches Wort und wir wären auf dem Schafott gelandet.

Viktoria war das einzige Mädchen, das ich jemals kannte. Doch es ist nun zwanzig Jahre her, als ich auf ihrem Sterbebett mit ihr die letzten Worte wechselte.

Ich versuchte meinen Kopf zu Bewegen. Die Steife meines Nackens verhinderte mein Vorhaben. „W…Wer bist du?“ fragte ich ohne Nachzudenken. Ich hätte mich erst bedanken müssen. Doch diese Frage bedrängte mich schon seit dem ich dieses Mädchen das erste Mal sah. „Mein Name… ich… ich heiße Juliana“, entgegnete mir eine schüchterne wenn nicht sogar angsterfüllte Stimme. „Entschuldige, ich wollte dich nicht einschüchtern“, antwortete ich, während ich immer noch benommen war.„ Mein Name ist Emiras. Danke… ohne deine Hilfe wäre ich wahrscheinlich nicht mehr am…“ kurz vor meinem letzten Wort erkannte ich, dass ich ihr von Anfang an meine komplette Energie hätte schenken können. Durch die Blüten des Waldes wäre ein Tod unmöglich gewesen. Ich hätte niemals sterben können.

Endlich erlangte ich die Kraft zurück, die ich benötigte, um mich aufzurichten. Meine Sicht war immer noch verschwommen, als ich mich umblickte.

„Was ist hier passiert?“, fragte mich die dünne Stimme Julianas, „Warum sind alle tot?“

„Sie sind nicht tot“, entgegnete ich, während ich mit meiner Hand durch meine filzigen Haare strich. „Weißt du überhaupt wie viele Jahre du geschlafen hast?“

Verstört wandte sie ihren Blick von mir ab und schluchzte. „Ich erinnere mich an nichts mehr….. nur noch daran, wie mich jemand an diesen Ort trug. Meine Erinnerungen sind verschwommen. Auf einmal saß ich da und du lagst vor mir.

Ich wanderte einige Meter durch das Schloss, doch flüchtete sofort wieder, als ich „Sie“ alle sah. Bist du dafür verantwortlich?“

Kopfschüttelnd erwiderte ich nur: „Ich wünschte ich wüsste selbst, was hinter all dem hier steckt!“

Anstatt ihr zu verraten, wie viele Jahrhunderte sie überdauert hatte, richtete ich meinen Blick ebenfalls zum Gras des Innenhofes. Ich erkannte eine Gruppe Ameisen, wie sie mitten in ihren Tätigkeiten erstarrt waren. Der Legende nach müsste längst das ganze Schloss mit der Prinzessin erwacht sein. Nun ja, an eine Prinzessin erinnerte die Gestalt vor mir weniger. Sie wirkte eher wie ein gefallener Engel.

Es vergingen Minuten in denen wir keine Worte miteinander wechselten. „Mein Vater hatte mich eingesperrt!“ Mit einer erkennbar klareren und lauteren Stimme unterbrach sie die Stille. „Ich weiß noch in etwa, wer ich war, doch was ist aus mir geworden? Ich fühle mich so schwach und kränklich. Ich kann nur mit Mühe sitzen.“

Auch meine übrigen Kraftreserven waren fast aufgebraucht. Doch um herauszufinden, was hier vor sich ging waren wir gezwungen das Schloss weiter zu erkunden, um ihre Erinnerungen aufzufrischen. Unter Anstrengungen erhob ich mich. Ich benötigte Zeit, bis ich meine wackligen Beine im Gleichgewicht waren.

„Bitte… du musst mit mir kommen! Wir gehen an den Ort an dem ich dich vorfand. Vielleicht fällt es dir dort leichter, dich wieder an alles zu erinnern.“

Ich näherte mich ihr mit vorsichtigen Schritten an. Sie kniete noch immer und blickte weiterhin auf den Boden. Als sie bemerkte, dass ich direkt vor ihr stand packte sie mich an den Beinen und begann an mir hervorzuklettern.

Als sie aufrecht stand, legte sie ihren rechten Arm um meinem Hals um nicht zu fallen und blickte, voll von Scham, auf den Boden. Anscheinend fehlte ihr die Kraft um alleine zu stehen.

Die Haut ihres Armes, welche meinen Nacken streifte fühlte sich rau wenn nicht sogar rissig an. Ich kämpfte mit meinen Beinen und war mehrmals kurz davor mein Gleichgewicht zu verlieren. Anschließend begann ich meine Schritte in Richtung der Eingangstür. Juliana schien ihre Beine kaum bewegen zu können. Sie war stets bemüht nicht in meine Augen zu schauen. Auch ich war gezwungen mich an den Wänden und Tischen an denen wir vorbeigingen abzustützen. Das Steigen der Treppen stellte sich als ein überwindbarer Akt heraus. Das Geländer half einem ideal als Stütze und in meinen Armen verblieb deutlich mehr Kraft. Als wir die Schlafgemächer des Fürsten betraten, bemerkte ich ihr Zusammenzucken.

Ich hatte das Bedürfnis sie zu fragen, welche Erinnerung sie mit diesem Raum verband. Doch Fragen hatte ich genug, wenn wir erst einmal die Spitze des Turms erreicht hatten.

Die Dünne und steile Wendeltreppe des Turms wirkte durch die zusätzliche Last noch enger und die Stufen noch steiler. Ich spürte, wie der Körper Julianas immer zittriger wurde. Ihr halt wurde Schwächer und ihr Arm, mit dem sie sich an mir fest hielt, lockerer. „Gleich sind wir oben“, waren meine Worte, doch sie waren völlig deplatziert, da sie keinen gewöhnlichen Schwächeanfall erlitt.

Es waren die Erinnerungen, die mit ihr emporstiegen. Dass sie keine guten Erinnerungen an diesen Raum haben konnte, war mir vorher bewusst, doch ich brauchte ihre Antworten.

Schuldgefühle durchquerten meinen Leib, als wir kurz davor waren, den einen Raum zu betreten. Als sie letztendlich ihren Vater erblickte erschlafften all ihre Glieder, und sie glitt mir aus den Armen. Ohne sich zu rühren, lag sie mit weit geöffneten Augen am Boden.

Ich hielt mich nur mit Mühe neben ihr auf den Beinen und erhoffte eine Reaktion, doch noch nach Minuten reagierte sie nicht. Als mir deutlich wurde was ich ihr gerade angetan hatte, gaben meine Beine meiner Erschöpfung nach und ich fiel auf die Knie

„Es tut mir leid… ich wollte dich nicht in diese Situation bringen“, stammelte ich nur. Eine Reaktion hätte ich nicht erwarten können. Mit der Zeit begann sich ihr Zittern zu legen. Ich nahm ihre Hand in meine und erklärte „Es war ein Fehler, dich hier herzubringen. Hör zu ich kann versuchen dich hier herauszubringen…. du kannst diesen Ort hinter dich lassen und all das hier vergessen.“ Juliana warf mir nur einen kurzen, ausdruckslosen Blick zu. Schuldgefühle übernahmen mich, doch ich war ratlos wie ich die Situation lösen könnte. Als ich anfing in Gedanken zu versinken, begann die knochige raue Hand, die ich immer noch festhielt zu zucken.

In einer raschen und unerwarteten Bewegung befreite sie ihre Hand aus meinen Griff und ihre schwarzen langen Fingernägel bohrten sich in meinen Unterarm. Ihre ausdruckslosen Gesichtszüge verwandelte sich in ein Entsetzen und sie begann zu hecheln.

Wie von einem Puppenspieler gesteuert erhob sie sich, vergleichbar mit der Bewegung einer Marionette. Anscheinend trug ihr geringes Körpergewicht zu diesem Anblick bei. Ich war überrascht. Solch eine Energie hätte ich in ihr nie vermutet. Vor kurzem war sie nicht einmal in der Lage zu laufen. Humpelnd bewegte sie sich zum aufgeblähten Körper ihres Vaters.

Für einige Sekunden hielt sie inne. Kurz darauf begann sie sich auf ihn zu stürzen. Sie begann mit beiden Händen auf ihn einzuschlagen. Ihre Bewegungen wurden immer schneller und wilder. Juliana wechselte stets zwischen einem Brüllen und hektischen Aufatmen. Es war erstaunlich, welche Kräfte der Hass in einem zu wecken vermag.

Juliana atmete auf und begann mit ihren Fingern Bauch und Brustkorb ihres Vaters aufzukratzen. Mit einem dumpfen Geräusch platzte der Bauch auf und das schwarze, dickflüssige Blut landete im Raum verteilt. Als Juliana bemerkte das ihr Vater immer noch atmete begann sie mit der Flachen Hand wie mit einem Dolch in den offenen Brustkorb ihres Vaters zu stechen. Unter Tränen schrie sie: ,, Warum stirbst du nicht einfach ! Hör auf ! Hör auf zu existieren ! Du darfst nicht da sein !“

Als ich mich aus meiner Schockstarre befreite und aufstand, war der Körper ihres Vaters fast komplett mit ihren bloßen Händen zerfetzt worden. Ich stand auf und ging mit schnellstmöglichen Schritten auf sie zu, um sie fort zu zerren.

Juliana wehrte sich nicht. Sie blickte nur kurz zu mir rüber, bis sie anschließend wieder zu ihrem Vater schaute.

„Ich war schwanger“, warf sie in den Raum.

„Du warst… wurdest du deshalb hier oben eingesperrt? Sollte keiner wissen dass du…?“ Juliana unterbrach mich:

„Ich wurde hier oben schon eingesperrt, als ich zehn Jahre alt war. Nein, dieses Monster, das dort liegt… es wollte mich erdrosseln weil ich schwanger war …“

„Aber wenn du hier eingesperrt warst… wie -“ Als sie mir einen hasserfüllten Blick zuwarf hätte ich mich selbst für mein unsensibles Vorgehen ohrfeigen können. „Ich trug das Kind meines eigenen Vaters…“

Ihre Worte zischten um meine Ohren und schnitten in meine Seele wie scharfe Klingen. Was für ein Wesen war ihr Vater ? Wie oft hatte er sie vergewaltigt? „Sie sterben nicht wenn du nicht ihr Gehirn zerstörst…“ erklärte ich, doch das schlimmste war, dass dieser Mensch wie alle anderen Opfer des Fluches in seiner Traumwelt „glücklich“ leben konnte, eine abscheuliche Vorstellung. Es war wahrscheinlich die bessere Option ihr davon nicht zu erzählen.

Juliana wandte sich zu mir. Ihr zerrissenes Kleid war von einer pechschwarzen Brühe besudelt. Lediglich ihr Gesichts blieb verschont. „Warum bist du hier?“

„Ich hatte den Auftrag den Fluch des Schlosses zu brechen. Über dieses Schloss rangen die berüchtigsten Schauergeschichten. Es ist schon seit Jahrhunderten unmöglich dieses Schloss zu betreten ohne mit seinem Leben oder eher seiner Existenz zu bezahlen“, erklärte ich ihr.

„Was ist hier passiert? Ich weiß nur noch wie mein Vater mich töten wollte!“ Julianas Stimme klang mit jedem Wort verzweifelter. „Irgendein Fluch liegt auf diesem Anwesen. Ein Wald der in Dornen und Ranken getränkt ist, umgibt das Schloss. Die Ranken fassen jeden, der versucht auch nur in die Nähe des Schlosses zu gelangen. Jeden Menschen den sie fangen verwandeln sie in eine lebende Mumie…“, Juliana unterbrach mich, „Wie bei den Bediensteten…“ Ich nickte.

„Wie hast du es hierher geschafft?“ „Nun ja… mein Meister, seine Schüler und somit auch ich versuchen dunkle Magie zu brechen… meine Aufgabe war es, dieses Schloss von jeglicher schwarzer Magie zu befreien. Es sollte meine letzte Prüfung sein. Hätte ich es geschafft den Fluch zu brechen wäre ich ein vollwertiger…“, abermals unterbrach mich Juliana. In ihren Augen konnte ich tatsächlich einen kleinen Anklang von Begeisterung erkennen. Es war, als hätte sie gerade alles um sich herum vergessen. „Du bist ein Magier?“, „So ist es“, antwortete ich, „und offenbar lebte in diesem Schloss ebenfalls einer. Doch ich habe keine Ahnung wie ich den Fluch brechen kann. Die Person die für das alles hier verantwortlich ist, lebt nicht mehr. Der Wald erbte die Seele des einstigen Anwenders schwarzer Magie.“

Einen Moment hielt ich inne, Ich könnte sowieso kaum außerhalb dieser Wälder überleben. „Wie du gesehen hast, hält uns alle hier irgendetwas am Leben. Ich vermute es sind die Blüten des Waldes! Wenn der Fluch erst einmal gebrochen ist werde ich meinen Wunden erliegen. Ich weiß immer noch nicht wie lange es her ist, seitdem ich aufgebrochen bin.“

Ich bemerkte, dass Julianas Interesse nicht mehr mir galt. Vollkommen außer sich blickte sie direkt an mir vorbei. Langsam richtete sie sich auf und näherte sich dem Spiegel hinter mir.

Als sie ihr Antlitz im Spiegel deutlich erkennen konnte, wandte sich ihr Gemüt immer stärker.

Letztendlich brach sie in Tränen aus.

Sie konnte nicht wissen wie die Jahrhunderte sie verändert hatten. Auch wenn ich immer noch in ihr ihre einstige Schönheit erkennen konnte, erinnerte sie unübersehbar an einen Menschen der bereits seit längerer Zeit verstorben und verwest war.

Immer länger blickte sie in ihren Spiegel. Ihre Tränen waren dunkel und trüb. Sie kullerten ihre knochigen Wangen herunter und fielen auf ihr Kleid, wo sie schwarze Spuren hinterließen. Ich stand hinter ihr und legte meine Hand über ihre Schulter.

Mir war die ganze Situation alles andere als angenehm. Nie zuvor sah ich mich gezwungen einen Menschen vor mir zu trösten. Noch nie war jemand vor mir, der seine Hilflosigkeit so zum Ausdruck gebracht hat. Doch wie hätte ich sie beruhigen können. Ein „Das wird schon“ wirkte wie ein schlechter Scherz. Es gab keinen magischen Weg ihr Aussehen wieder herzustellen. Es war eine langsamere Form der Verwesung die von einem jedem in solch langem Zeitraum Besitz ergriffen hätte.

Ihr Weinen war in Hilflosigkeit getränkt und klang immer verzweifelter. Mitleid war ein ungewohntes Gefühl für mich. Ich selbst sah ebenfalls nicht besonders frisch aus, doch war es einerseits keine jahrhundertelange Fäulnis die mein Antlitz prägte. Andererseits hatte mich Aussehen noch nie gekümmert. Trotz allem wäre auch ich außer mir, wenn ich mich in Julianas Situation befunden hätte.

Als mein Gewissen letztendlich unter ihren Tränen zu stark litt, traf ich einen leichtsinnigen Entschluss. Als letztendlich sich ein loser Stein in mein Blickfeld bohrte, nahm ich ihn auf und schmetterte ihn gegen den Spiegel.

Der Spiegel zerbrach durch den Kuss des Gesteins in tausende kleinster Splitter, die sich wie Staub im gesamten Raum verteilten. Größere Überbleibsel waren nicht mehr in der Lage, ihre Blickfeld zu reflektieren.

„Der einzig entscheidende Spiegel, ist der Spiegel unserer Seelen, der immer für uns bereit steht, falls der Mut vorhanden ist.“ Ein schlechtes Zeitgefühl mit Sätzen lag mir offenbar im Blut. Natürlich kann man keinen Menschen mit einem Satz wie: „Die inneren Werte sind entscheidend“ überzeugen. Doch Julianas Weinen war verstummt. Ihre Augen waren zugekniffen. Ich erkannte ihre Versuch, die Tränen zu unterdrücken. Wie kleine Würmer bohrten sich weitere Tränen unten unter ihren Augenlidern hervor.

„Ich weiß wieder was hier geschehen ist. Ich kann dir verraten wer hinter all dem steckt. Es ist eher traurig als spannend, aber wenn du so sehr darauf beharrst… Im Gegenzug möchte ich nur, dass du mir eine Sache versprichst…“

Mit jedem ihrer Worte kühlte ihre Stimme ab. Obwohl sie innerlich zerstörter den je war, interpretierte ich ihren Gesichtsausdruck fehl. Ich ging davon aus, sie hätte sich beruhigt und somit antwortete ich: „Ich tu alles was in meiner Macht steht um dir zu helfen, ich…“

„Dann bring mich um!“ Ihre Aussage war von tiefer Entschlossenheit geprägt. „Meine Existenz in der heutigen Zeit war nie vorhergesehen. Du hast mich doch gesehen. Du hattest mich die ganze Zeit ansehen können. Jeder erkennt in mir einen Menschen, dessen Leben wider jeglicher Natur ist. Ich sehe aus wie ein Monster…“

Für einen kurzen Moment atmete sie tief durch. Anschließend folgten weiter Sätze, auf die meine gelähmte Zunge keinen Widerspruch parat hatte.

„Ich werde dir zeigen was mit dem Schloss passiert sein muss. Genau konnte ich es nicht erleben. Doch auch ich möchte mich vor meinem Ableben noch einmal komplett vergewissern.“

Ohne ein weiteres Wort stand Juliana auf und begann ihre humpeligen Schritte in Richtung der Treppe. „Wenn du mir versprichst, mich danach zu erlösen, darfst du mitkommen. Ich werde zu dem Ort gehen, wo Antworten auf unsere Fragen lauern.“

Nicht nur meine physische Erschöpfung hinderte mich am Aufstehen. Ich wusste, dass ich ihre Bedingung nicht erfüllen würde. Ich wusste, dass ich ihre Bedingung niemals erfüllen konnte. Ihr Verlangen war purer Wahnsinn und dennoch nachvollziehbar.

Niemals hätte ich Selbstmord begangen, wenn mein Antlitz wegen irgendetwas noch so entstellt wäre. Doch sie gehörte nicht in diese Zeit. Sie hatte keinen Menschen mehr… keine Familie. Eine Familie hatte sie wahrscheinlich noch nie.

Der größte Teil ihrer Kindheit schien komplett zerstört gewesen zu sein und jegliches Nachdenken über ihre Vergangenheit vermochte es sie in tiefste Depressionen zu werfen.

Während ich über die verschiedensten Möglichkeiten nachdachte, wie ich sie von ihrem Vorhaben zu sterben abbringen könnte, schallte es aus mir heraus: „Warte! Ich komme mit dir!“

Meine Füße zitterten bei dem Versuch, einen weiteren Schritt zu gehen und wühlten den herabgefallenen Staub erneut auf. Meine Schritte waren wieder langsamer und mühsam. Auch mein Wille wollte mich nun zurückhalten. Unbewusst munkelte ich darüber, ob ich insgeheim gerade einen Vertrag unterschrieben hatte. Es war der Vertrag, eine arme Seele von ihrem Leiden erlösen zu müssen. Es war jedoch auch ein Vertrag, den ich niemals einhalten konnte. Selten hatte ich in meinem Leben, einen Menschen töten müssen. In all diesen Fällen handelte ich jedoch stets aus Notwehr.

Während ich die Treppen hinabstieg hörte ich sie hecheln. Ihre Schritte waren schneller als die Meinen, doch das Mädchen hatte sich übernommen.

Im Zimmer ihres Vaters traf ich sie an. Sie stütze sich mit beiden Händen gegen die steinerne Wand des Zimmers. „Mein Vater hatte mich dort oben nur mit dem Nötigsten versorgt, während er hier unten ein Leben führte, welches nur so von Reichtum verseucht war. Er sperrte mich nicht um sonst in genau diesem Turm dort oben ein… So war der Weg zu seinem ‚Besitz‘ kürzer.“

„Du musst dich schonen! Siehst du nicht selbst, wie sehr du außer Atem bist. Dein Körper hält solch starke Belastungen nicht aus.“ Meine Worte schienen nur gegen ein gewaltige Mauer zu prallen.

´Immer wenn ich einatme durchdringt ein beißender Schmerz meine fauligen Lungen. Ich habe das Gefühl, dass langsam mein Schmerzempfinden wieder zu meinem Geist findet. Wenn wir zu lange Warten werde ich vielleicht bald vor Schmerzen nicht mehr in der Lage sein überhaupt zu denken.“ Ihre Sätze wurden stets von einem ungesund klingendem Husten unterbrochen.

“Gerade dann solltest du aufhören dich zu übernehmen. Bitte gehe gemächlich voran. Zur Not trage ich dich wieder und du weißt mir den Weg.“

Juliana reagierte nicht auf meine Worte. Stumm bewegte sie sich an mir vorbei, doch ihr Tempo war tatsächlich reduziert. Ich folgte ihr mit einigen Metern Abstand. Ihr Weg durch das Schloss war aufgrund ihres Orientierungssinnes weitaus weniger umständlich als noch mein eigener, als ich das Schloss einst betrat.

Mit der Zeit verringerte ich den Abstand zu ihr. In manchen Momenten konnte ich immer noch ein Schluchzen oder Aufschnauben aus ihr heraushören. Ich ignorierte es und schob jegliches Mitleid bei Seite.

Auch wenn unser Tempo langsam war, kannte sich Juliana im Vergleich zu mir gut im Schloss aus. Es dauerte nicht lange bis wir den Hintereingang des Schlosses erreichten.

Erneut wehte mir eine Brise frischer Luft gegen die Nase. Es war bereits dunkler geworden. Die Wolkendecke ließ nur noch wenig Licht durch.

Der Hinterhof des Schlosses erinnerte an den Innenhof. Auch er war komplett verwildert, jedoch von den Ranken des Waldes, die auch den Hinterhof umzäunten, verschont.

In der Mitte Hofes befand sich eine kreisrunde, von Moos bedeckte Mauer aus Steinen. Sie war etwa einen Meter hoch und zusätzlich recht breit. Es war also nicht schwer über sie hinüberzuklettern. Genau diese Steinmauer umrundete einen Mast, der aus einem undefinierbarem Pechschwarzen Material befand.

Julianas Schritt- und Atemtempo erhöhte sich. Immer unkontrollierte wurden ihre Schritte. Ich versuchte sie einzuholen. Vor den Steinmauern brach sie schließlich zusammen. Als ich sie erreichte kniete ich mich vor ihr hin. Ich schüttelte sie, doch sie schien vollkommen ihr Bewusstsein verloren zu haben.

Die Verzweiflung in mir warf die unterschiedlichsten Fragen auf.

„Wacht sie überhaupt noch auf? Was hatte sie gesehen, dass sie so reagierte?“

Hilfesuchend blickte ich um mich.

Es fühlte sich wie ein Blitzschlag an, als ich realisierte, dass die Mauer vor mir nicht aus Steinen bestand.

Schweißgebadet schreckte ich hoch.

Diese Mauer schien einst eine Menschenmenge gewesen zu sein, die einer Hinrichtung beiwohnte. Es war der gleiche Anblick von mumifizierten Körpern der mir schon oft zuvor während meiner Reise geboten wurde. Da sie so von Moos und Dreck bedeckt worden waren hielt ich sie erst einmal für gewöhnliche Steine, auch wen die Formen auffällig waren.

Als ich aufstand und immer noch Mühe dabei hatte, mich auf den Beinen zu halten, erblickte ich, dass sich am Mast etwas befand. Ich begann mich dem Mast zu nähern und kletterte mit aller Kraft über die Berge von Menschen. Wäre ich bei Kräften gewesen wäre dieser Akt kein Problem für mich gewesen. Doch der Schock hielt immer noch meine Gliedmaßen im Griff und hinderte mich immer wieder erneut.

Anstatt meine verbliebenen Kraftreserven dafür zu verschwenden aufzustehen, bestritt ich den restlichen weg zum Mast nur noch kriechend. Mein Kopf ließ ich hierbei hängen um Energie zu sparen. Der Boden hinter der Menschenmasse war durchaus weniger mit Gras bewachsen und ungewöhnlich hart.

Als ich merkte, dass ich mich nur noch wenige Meter vor dem Mast befand, erhob ich meinen Kopf. Was ich erblickte ließ mich wünschen, dass ich niemals aufgeblickt hätte. Es war eine skelettierte Leiche, die aufgrund ihrer geringen Körpergröße noch zu Lebzeiten ein Kind gewesen sein muss.

Langsam wandelte die Angst, die sich in mir befand in reine Wut.

Langsam überlegte ich, ob viele der Menschen hier ihr Schicksal sogar zurecht verdient hatten. Nur Abschaum ergötzt sich an dem Leid anderer. Doch nur der niederste Abschaum der Menschheit tötet Kinder. Noch dazu verehrten diese Menschen eine Person, die ihre eigene Tochter vergewaltigt hatte.

Die Leiche war noch immer am Mast befestigt. Es war die erste wirkliche Leiche, die ich auf meiner Reise gefunden hatte. Unbestreitbar war jegliches Leben in ihr verschwunden. Sie muss deshalb verstorben sein, bevor sich der Fluch im Schloss verbreitet hatte. Aber sie war noch angekettet. Vermutlich wurde sie verbrannt, wobei es aufgrund der Jahrhunderte schwer war, einen Indikator für den Feuertod zu finden.

Alle Umstände deuteten auf eine Hexenverbrennung. Es muss erwähnt werden, dass es in den seltensten Fällen Hexen oder schwarze Magier waren die wirklich verbrannt wurden. Die Menschen unterscheiden niemals zwischen rechtschaffenen und bösartigen Magiern.

„Sie war meine einzige Freundin…“

Leise aber dennoch unüberhörbare Worte erhaschten meine Ohren.

„Sie war noch ein Kind… Sie war zwölf als man sie hingerichtet hatte. Ihr Name war Tamyra. Hätte ich sie damals nicht von der Straße geholt, hätte sie vielleicht überlebt.“

Juliana befand sich hinter mir. Sie war aufgewacht und im Begriff sich ebenfalls dem Mast zu nähren. Ihre Schritte wirkten unkontrolliert aber sauber. Aus ihrem Humpeln war eine fast gewöhnliche Gangart geworden.

„Warum war ich nur so neugierig… es ist alles meine Schuld. Ich wollte unbedingt, dass du es mir beibringst.“ Ihre Stimme wurde umso deutlicher je näher sie dem Mast kam.

Als Juliana ihrer toten Freundin gegenüberstand, fiel sie auf die Knie und lehnte ihren Kopf gegen die skelettierte Brust. Ihr Weinen ergriff mein Herz.

„Es tut mir so unglaublich leid… ich bin an all dem Schuld.“

Von ihren Worten und Tränen ergriffen, legte ich meine Hand auf ihren Rücken und streichelte ihn.

„Sie muss viel von dir gehalten haben. Den Fluch muss sie ausgesprochen haben als die Flammen an ihr zehrten. Jeden Bewohner dieses Schlosses hatte sie verflucht. Du warst die Person, die von ihrem Fluch verschont blieb. Als sie starb, manifestierte sie ihre Seele in den Wald der dieses Schloss umgibt. Nur so war sie in der Lage Nahrung zu sammeln um ihren Fluch aufrecht zu erhalten.

Du warst ihr Schatz. Dich hatte sie immer schon versucht vor selbsternannten Helden zu schützen.

All die Landsleute, die versucht hatten dich zu retten, erlitten ein ähnliches Schicksal wie die Bewohner des Schlosses. Sie liebt dich noch heute und versucht dich noch immer zu beschützen.“

Juliana wendete sich mir überrascht zu. Für einen kurzen Moment hielt sie inne.

„Ich verdiene diese Zuneigung nicht. Ich verdiene all das nicht. Es begann als ich acht Jahre alt war. Sie war das Kind einer Bettlersfamilie. Als ich in genau diesem Hinterhof vor mich hinspielte fand ich sie. Sie lag ausgehungert und erschöpft in den Blumen die heute nicht mehr existieren.

Kurze Zeit später entdeckte auch die Wachen uns beide.

Sie wollten sie wieder in die Wälder werfen und sie ihrem Schicksal überlassen. Ich jedoch rannte zu meiner Mutter und bat sie, das Mädchen aufzunehmen. Ich hatte mir schon zu diesem Zeitpunkt immer eine kleine Schwester gewünscht. Als meine Mutter letztendlich beschloss, sie im Schloss großzuziehen, ging für mich ein Traum in Erfüllung.

Mit der Zeit wuchs das Band zwischen mir und Tamyra immer stärker. Was ihre Vergangenheit anging, war sie immer noch verschlossen. Eines Tages jedoch vertraute sie mir an, über welche Fähigkeiten sie verfügte. Tamyra konnte genau wie du Magie anwenden. Als ich das erste Mal sah wie sie mit Blitzen und Feuer spielte, war ich äußerst verängstigt. Meine Eltern hatten mir stets Horrorgeschichten über Zauberer die Nachts Kinder entführen erzählt.

Doch mein Vertrauen in Tamyra war zu groß, um sie zu verraten.

Im Laufe der Wochen verwandelte sich meine Angst in Begeisterung. Ich verlangte immer wieder nach neuen Vorstellungen ihrer Kräfte, bis ich schließlich von ihr lernen wollte und sie mir ihre Künste beibrachte.“

Erstaunt unterbrach ich Juliana in ihrer Erzählung.

„Das heißt, du warst auch in der Lage, Magie anzuwenden?“

„Tamyra brachte es mir bei. Nicht jeder kann Magie beherrschen?“

Ich runzelte die Stirn. „Nur ein winziger Bruchteil der Menschheit wird mit dieser Gabe von Geburt an ausgestattet. Es war ein großer Zufall, dass gerade ihr euch gefunden habt!“

„Es war großes Pech… Wäre ich nicht in der Lage zu solchen Fähigkeiten gewesen, hätten uns die Bediensteten 2 Jahre später nicht beim Üben erwischt.“

Ihre Sätze wurden stets von einem Schluchzen unterbrochen. Selbst meine Worte konnten sie nicht von ihren Schuldgefühlen erlösen.

„War dies der Grund, weshalb man dich in den Turm sperrte.“

Juliana nickte. Bevor sie zu reden begann, atmete sie tief durch.

„Tamyra hätte selbst zu diesem Zeitpunkt hingerichtet werden können. Doch meine Mutter hatte sie wie eine Tochter aufgezogen. Eine Hinrichtung hätte sie nie über ihr Herz gebracht.

Die ersten Tage in diesem als Turm getarntem Gefängnis waren seelische Folter. Nur ein Bediensteter brachte mir ohne ein Wort zu sprechen meine Mahlzeiten. Ansonsten war ich komplett isoliert.

War mir Glück vergönnt, so konnte ich die Vögel am Himmel betrachten. Ich war leider noch zu klein um aus dem Fenster heraus in den Hof zu schauen, sodass ich nur in den Himmel blicken konnte.

Mehr als alles andere quälte mich jedoch die Frage, was aus Tamyra wurde. Man hatte mir erzählt, dass sie in einem Dorf ausgesetzt wurde. Meine Sorgen waren endlos. Sie war mit sieben Jahren drei Jahre jünger als ich. Es war doch für ein kleines Mädchen unmöglich auf der Straße zu überleben.

Es müssen ungefähr vier Monate später gewesen sein als mich die schönste Stimme, die ich je in Erinnerung hatte weckte.

„Juliana… bist du es?“, hörte ich als ich begann meine Augen langsam zu öffnen. Es war Tamyra, die in meinem kahlen Turmzimmer direkt vor mir stand und mich mit strahlenden Augen anblickte.

Als ich mich auf mein Bett setzte und mein Glück kaum fassen konnte, fiel sie mir bereits unter Tränen in meine Arme.

Du kannst dir gar nicht vorstellen wie schön dieses Gefühl nach monatelanger Einsamkeit für mich war, auch wenn ich bis heute nicht weiß, wie sie durch das Fenster gekommen ist…

Tamyra hatte immer noch die selbe Kleider an, wie zu dem Zeitpunkt, als man sie aussetzte. Demnach war ihr Kleid stark heruntergekommen. Im Gesicht war sie deutlich magerer als zuvor und ihre langen Haare waren zerzaust und filzig. Alles erinnerte mich fast an den Tag, an dem ich sie einst im Beet bewusstlos auffand.

Wir erzählten uns gegenseitig was uns widerfahren war und ich gab ihr meine Mahlzeiten.

Täglich besuchte mich Tamyra und blieb für Stunden. Manchmal blieb sie für einen ganzen Tag. Da ich genug zu essen bekam, musste sie kein Hunger mehr leiden. Tamyra versuchte mir über Jahre das Schweben beizubringen, sodass wir zusammen fliehen konnten. Was die Magie anbelangt war ich leider ein hoffnungsloser Fall. Vielleicht war Tamyra auch einfach nur hochtalentiert.

Nichts desto trotz genoss ich Tamyras Anwesenheit mehr als alles Andere, denn ohne sie wäre ich schon viel früher dem Wahnsinn erlegen. Ohne mich wäre Tamyra wahrscheinlich verhungert. Wenn ich darüber nachdenke wäre es vielleicht für sie das weniger schmerzhafte Schicksal gewesen.

Die Jahre vergingen. Tamyras Kräfte stiegen und sie bot mir immer wieder erneut an, zusammen mit ihr zu fliehen. Doch wie hätten wir auf der Straße überleben können? Dort draußen wären wir entweder verdurstet oder man hätte uns zu schlimmeren Dingen gezwungen. Hätte man erst einmal nach mir gesucht… wir hätten uns andauernd verstecken müssen.

Immer seltener besuchte sie mich. Die Verfolgung von Magiern schien einen Jeden zu äußerster Vorsicht, zu zwingen.

Immer wenn man denkt, das Schicksal hält keine weiteren negativen Wendungen mehr parat hat…

Worauf ich hinaus will: Ich muss vierzehn Jahre alt gewesen sein, als ich erfuhr, dass meine Mutter verstorben war. Es schien schon vor Wochen geschehen zu sein, als ich es von dem gleichen Bediensteten in den emotionslosesten Worten mitgeteilt bekam. Bis heute weiß ich nicht woran sie gestorben war.

An diesem Tag begann die schlimmste Zeit meines Lebens. Mein Vater hätte sich eine neue Frau suchen können. Er hätte eine neue Partnerin suchen können. Stattdessen hörte ich seine Schritte an jenem Tag.

Die Tür meines Zimmer öffnete sich und er stand dort. Nach all den Jahren hatte ich ihn zum ersten Mal wieder gesehen.

Ich stand auf und war Willens mich bei ihm zu entschuldigen. Sein Lächeln gab mir falsche Hoffnung. Anstatt mich zu umarmen…

Zu jedem Moment hatte ich versucht meine Magie gegen ihn anzuwenden. Ich wollte ihn töten. Doch aus welchem Grund auch immer… es gelang mir nicht. Meine Flüche zeigten nicht den Hauch einer Wirkung…!

Zu Beginn konnte ich Tamyra nichts von dem erzählen, doch ohne dass ich auch nur ein Wort von mir geben musste, realisierte sie schnell, dass etwas faul war.

In jeder anderen noch so schrecklichen Situation hätte mir Tamyras Anwesenheit ein Lächeln schenken können. Doch mein Trauma konnte ich nicht verbergen. Alles in mir fühlte sich so kalt an. Ich empfand nur die schwarze Leere in mir. Jegliche Freude sowie jeglicher Schmerz war entschwunden, als hätte mir mein Vater jegliche Fähigkeiten zum Empfinden geraubt.

Tamyra dachte nicht daran, mich im Stich zu lassen..

Ihre Besuche häuften sich wieder. Es geschah genau zwei Tage vor meinem fünfzehnten Geburtstag, als ich sie das allerletzte Mal sah.

Ihr Besuch beinhaltete im Grunde nur ein Stundenlanges Angestarre. Keiner von uns brachte auch nur ein Wort raus. Als sie schließlich ein letztes Mal aufstand, hätte ich sie dennoch am liebsten bei mir behalten. Mit ihren letzten Worten versprach sie etwas, dass sie nie hätte einhalten können. Sie versprach mir die Freiheit.

Pünktlich zu meinem fünfzehnten Geburtstag stattete mir mein Vater einen weiteren seiner Besuche ab.

Sein Gesicht war ungewohnt ausdruckslos. Es ließ das Lächeln missen, welches mich stets in meinen Albträumen verfolgte.

„Gleich wird deine kleine Freundin dafür brennen, was sie uns angetan hat!“

Dass mit seinen Worten Tamyra gemeint war, drang sofort in mein Bewusstsein.

Ich weiß bis heute nicht genau, was sie versucht hatte, um mich zu befreien. Ich habe bis jetzt immer noch nicht den blassesten Schimmer, wie man es geschafft hat sie zu überwältigen. Ihre Kräfte waren enorm, was sie mir schon so häufig demonstrieren konnte.

Es war ein Gemisch aus Fassungslosigkeit und Schuldgefühlen, welches mich jeglichem Verstand berauben konnte. Bereits zu Beginn des Tages hörte ich ungewohnt viele Menschen auf den Höfen. Normalerweise durchdrang die Stille mein Gefängnis.

Letztendlich waren es jedoch Tamyras Schreie, die meine Seele folterten und meine Worte aus Leichtsinn formten.

Ich gab tatsächlich zu, dass ich schwanger war. Für meine Schwangerschaft gab es noch keine optischen Anzeichen die ein Außenstehender erkennen konnte. Meine letzte Erinnerung besteht aus einem Abbild meines Vaters, wie er seine Hände um meinen Hals zerrte.“

Dies war Julianas Geschichte.

Wir beide schwiegen für mehrere Minuten.

„Deine Freundin Tamyra, sie wollte nicht, dass du aufwachst. Ihre Absicht war es zu verhindern, dass Menschen wie ich kommen, um diesen Fluch zu bannen. Du solltest hier für immer bei ihr bleiben.

Hast du noch irgendeine Erinnerung an das, was geschah nachdem dich dein Vater ermorden wollte?“

Auf meine unsensible Frage antwortete Juliana mit einem langsamen Kopfschütteln.

„Es ist ungewöhnlich. Jeder der im Dornenwald gefangen ist, lebt in seiner eigenen Traumwelt weiter. Es scheint als, wäre dies eine Art Entschuldigung für ihre traurige Existenz.

Wie geht es dir im Moment? Haben die Jahrhunderte etwas an deinen Erinnerungen verändert ?

Plagen sie dich noch heute?“

Juliana benötigte etwas Zeit, um über eine passende Antwort nachzudenken.

„Ich fühle mich wie eine leere Hülle. Es fühlt sich an, als wäre es mir nicht erlaubt weiterzuleben.

Ich empfinde keine Angst mehr. Es ist nicht das gleiche Gefühl von Leere welches ich damals besaß. Zu dieser Zeit war es im Vergleich zu heute eher ein Trauma.

Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder Freude Empfinden kann. Deshalb möchte ich, dass du mich erlöst. Ich kann in dieser Welt keinen Platz mehr finden. Du musst es doch selbst erkennen wenn du mich anblickst!“

Tief blickte ich in ihre Augen. Sie waren von ihrem dunklen Blut unterlaufen. Meine Blicke wurden jedoch nicht erwidert.

„Es gibt vielleicht noch eine Alternative.

Ich bin einst gekommen um den Fluch des Schlosses zu Fall zu bringen. Mein Meister und ich, wir kämpfen gegen die schwarzen Künste an. Doch der Bann dieses Schlosses ist viel stärker als ein bloßer Fluch. Ich wäre von Anfang an nicht in der Lage gewesen, gegen diese Macht etwas auszurichten.

Nun werde ich bald zu meinem Meister zurückkehren und ich biete dir eines an.

Du kommst mit mir!“

Dass Juliana auf meinen Vorschlag mit einem Schock reagierte, war nicht verwunderlich.

Ich nutzte ihre Sprachlosigkeit um meine Argumente auszubauen.

„Mein Meister könnte dich unterrichten, wie er einst mich unterrichtete. Du könntest eine talentierte Magierin werden. Vor allem aber könnten wir von deinem Wissen über die schwarze Magie profitieren.“

Ich realisierte, dass Juliana im Begriff war zu antworten. Ich unterbrach sie: „Bitte antworte jetzt noch nicht. Ich gebe dir zwei Tage Zeit, um deine Entscheidungen zu überdenken. Ich werde diese Zeit benötigen um mich von meinen Wunden zu erholen. Möchtest du dann noch immer sterben, werde ich deinen Wunsch ohne zu zögern verwirklichen, auch wenn sich alles in mir dagegen sträubt.“

Sprachlos erhob sich Juliana. Sie begann ihren Weg zurück ins Schloss. Es schien, als wäre sie komplett in ihren Gedanken versunken.

Ich verweilte noch für einige Augenblicke, bis ich ihr letztendlich ins Schloss folgte.

Als ich aufstand und mich umblickte, hatte ich sie bereits aus den Augen verloren. Ich beschloss mich wieder in den Innenhof des Schlosses zu begeben. Für einen Magier reicht bloße Flüssigkeit um sich wieder einigermaßen zu regenerieren.

Eigentlich wären mehr als zwei Tage für meine Genesung von Nöten gewesen. Mein Meister war sicherlich voll von Sorgen. Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie viel Zeit seit meiner Abreise vergangen war. Monate waren es mindestens. Meine Absicht war es nicht, noch mehr Zeit verstreichen zu lassen. Mein Ziel war es auch außerhalb des Waldes zu überleben, ohne die Hilfe der Blüten.

Vielleicht hatte auch Jakob sein Verhalten überdacht. Oder lag es doch an mir? Er war eine schwierige Persönlichkeit. Meist gab er nur kurzsilbige Antworten von sich.

Juliana traf ich auf meinem Weg nicht wieder an. Ich wusste nicht wo sie sich befand, erwartete ihre Anwesenheit jedoch noch kurz vor meiner Abreise. Den größten Teil der restlichen Zeit die ich im Schloss verweilte, verbrachte ich damit, Wasser aus dem Brunnen zu trinken und auf den Gräsern neben dem Brunnen des Innenhofes zu schlafen.

Manchmal erwachte ich. Falls dies geschah beobachtete ich die Krähen, wie sie sich ungläubig vor mir versammelten. Ein kleinstes Zucken meinerseits war von Genüge, um sie zu verscheuchen.

Krähen sind intelligente Tiere. Auch wenn sie zuvor schon einmal einen Menschen sahen, waren sie an einem solchen Ort wohl keine Besucher gewohnt.

Wenn sie sich nicht um mich versammelten, verschönerten sie mit ihrer Anwesenheit oft den Ausblick in den Himmel. Häufig waren es Gruppen die über das Schloss hinweg flogen.

Kurz bevor die zweite Nacht anbrach beschloss ich bereits eine Vorkehrung für meine Abreise zu treffen. Vor mir stand eine weitere Reise durch den Dornenwald. Aus diesem Grund suchte ich bereits eine Position, die weniger dicht mit Ranken bewachsen war.

Tatsächlich sah der Bereich, aus dem ich auch hergekommen war, am einladensten für den Start meines Rückweges aus.

Es war bereits Nacht, als ich meine finale Entscheidung traf. Mit einem gewissen Sicherheitsabstand zum Wald legte ich mich nieder. Als ich in der Nacht in den sternlosen Himmel schaute, wuchs die Vorfreude auf meine Rückkehr. Endlich könnte ich wieder die Sterne am Himmel betrachten.

Da ich schon zuvor ausgiebig geschlafen hatte, versank ich lediglich in Gedanken. Diese Gedanken wurden vom Klang sanfter Schritten hinter mir unterbrochen. Juliana beugte sich stehend über mich und blickte verwirrt in meine Augen.

„Geht es dir nicht gut?“, fragte sie unbeholfen.

Sie trug einen leicht grünlichen langen Mantel, der bis zum Boden ragte und mein langes Haar streifte.

Ihre blonden Haare waren gekämmt und zu einem Zopf nach hinten zusammengebunden.

Mit einem erzwungenem Lächeln setzte ich mich auf und schüttelte als Antwort auf ihre Frage den Kopf. Juliana schaute zuerst in Richtung des Waldes, bis sie sich zu mir setzte.

„Du fragst dich wohl, ob ich mich schon entschieden hätte“, sprach sie. „Du fragst dich, ob ich diesen Mantel angezogen habe, weil ich in diesen Gewändern sterben will oder, weil ich mich auf die Reise, die du mir versprachst, vorbereitet habe.“

Als sie aufgrund meines Stirnenrunzelns die Ratlosigkeit in mir erkannte, fuhr sie fort:

„Wenn ich ehrlich bin, weiß ich selbst nicht, welcher Weg der Richtige ist. Mein Anblick erinnert an ein Monster. Man wird sicherlich von meinem Aussehen zutiefst erschreckt werden.“

„Dies spielt keine Rolle!“, antwortete ich, „Magier wie ich werden schon seit Generationen vom Hass und Neid der Menschen verfolgt. Du durftest genau diesen Hass bereits erleben.

Die Menschheit ist von einer unsagbaren Angst vor unserem Wissen angetrieben. Die Könige lassen jeden wegsperren, der von unseren Erkenntnissen berichtet.

Es gibt leider nicht mehr sonderlich viele von uns. Mehrere Magier schließen sich meist zu einem Zirkel zusammen. Das Problem ist, dass zum Beispiel unser Zirkel keine Informationen zu anderen Zirkeln besitzt. Wir wissen nicht einmal, wie viele Magier dort draußen noch existieren.

Kommunikation zwischen Magiern ist gefährlich. Es gibt ganze Gruppierungen, die Magier jagen.

Weiterhin existieren noch eine Reihe Zirkel dunkler Magier und Hexen. Sie versuchen uns noch immer für ihren Kreuzzug gegen die Menschheit zu gewinnen.

Dabei haben sie zum Hass der Menschen gegen uns beigetragen.“

Während meiner Erzählung horchte Juliana aufmerksam, bis sie mich mit einer Zwischenfrage Stoppte:

„Aber sieh mich nur an! Wird dein Lehrer mich nicht verabscheuen?“

Ich begann zu erklären:

„Jeder Magier hat erkannt, dass das Auge des Menschen ein unzuverlässiges Instrument ist und die Optik eine schwache Information darstellt.

Glaube mir… du wärst von großem Nutzen für uns. Du könntest eine äußerst mächtige Magierin werden! Hätte Tamyra gewollt, dass du dir das Leben nimmst?“

„Doch gerade Tamyra war um ein vielfaches begabter als ich! Meine Flüche konnten nicht einmal meinem Vater etwas anhaben. Tamyra hingegen war in der Lage, bis an die Spitze unseres Turms zu gelangen.“

Ich senkte meinen Ton um ihn sanfter klingen zu lassen.

„Ein Schüler wird am Anfang immer im Schatten seines Meisters stehen. Erst durch die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen die nach dem Studium folgen, erlangt man fortgeschrittenere Kräfte im Arkanismus.

Dein Vater war auf deine Kräfte vorbereitet. Ihm war bewusst, dass du ihn an seinem Vorhaben hindern würdest. Wahrscheinlich war er schon auf deine Magie vorbereitet, als er dich das erste mal…“

Ich beabsichtigte mit meinen Worten nicht unnötig Schaden anzurichten, weshalb ich meinen letzten Satz abbrach.

Juliana verharrte einen Augenblick bis sie ihre nächste Frage stellte.

„Du sprachst von Erkenntnissen, aufgrund derer die Menschheit so aufgebracht war. Welche Erkenntnisse meintest du?“

Ich verbarg ein Schmunzeln, während ich mich über ihre Neugier freute. Es war ein gutes Zeichen.

„Dir das zu erklären ist kein leichtes Unterfangen. Ich kann es dir nur zusammenfassend beschreiben.

Die meisten Menschen glauben, dass wir nach dem Tod für unsere Sünden bestraft werden und in der Hölle landen. Gleichzeitig kämen gute Menschen ins Paradies. Das Interessante ist, dass weder Engel noch Dämonen wissen was nach dem Tod geschieht. Sie besitzen eigene Religionen und Philosophien.

Nur den mächtigsten Magiern ist es gelungen, diese Welt zu verlassen. Unsere Welt dient als eine Art Übergang zwischen zwei Welten. Man darf sie demnach als Zwischenwelt bezeichnen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Zahl der Welten unendlich ist und sowohl normale als Zwischenwelten, wie unsere, existieren. Man kann von einer gewöhnlichen Welt aus nur in drei verschiedene andere Welten gelangen.

Ausnahmen bilden Zwischenwelten, die zwei Welten verbinden und aus der man auch nur in eine der beiden Welten gelangen kann.

Mein Meister hat mir bis jetzt nur von Welten namens Aeterno und Desolatio berichtet. Unsere Welt ist eine Zwischenwelt, die diese beiden Welten verbindet.

Wesen, die wir als Engel kennen, kommen aus dem Desolatio. Auch wenn sie von uns als Götter verehrt werden, sind sie bloß ein sterbliches aber sehr mächtiges Volk, welches nicht in der Lage ist zu altern.

Da sie sich jedoch auch nicht reproduzieren, sind sie am Aussterben.

Dämonen hingegen bevölkern Aeterno. Einst hat man befürchtet, dass sie eine Invasion planen, doch die Dämonenfürsten sind viel zu sehr in ihre eigenen, territorialen Konflikten verwickelt. Dennoch gelangten stets verschiedenste Dämonen in unsere Welt. Mächtigere Dämonen sind in der Lage einen Menschen dazu zu verführen, ihn in diese Welt zu beschwören.“

Juliana schien meine Worte in sich aufzusaugen. Ich stellte Behauptungen auf, bei deren Richtigkeit ich mir selbst nicht komplett sicher war.

Wir Magier hatten für unsere Erkenntnisse nur vage Quellen. Es ist Jahrhunderte her, dass wir je Kontakt zu einer anderen Welt hatten. Die einzige Ausnahme bilden Dämonen, von denen die Meisten schon seit Jahrhunderten unter uns leben. Ihre Erinnerung an die frühere Existenz ist oft schon erloschen.

Letztendlich fiel mir nicht mehr ein, mit welchen Worten ich sie noch hätte begeistern können. Als ich meine letzten Worte ausgesprochen hatte, kam sie mir direkt mit einer Frage entgegen, die in eine ungewohnten Begeisterung getränkt war:

„Heißt das, wenn ich dir folge, werde ich eines Tages Dämonen oder gar Engel sehen?“ Als ich nickte, versuchte ich meine Unsicherheit zu verbergen. Es gelang mir. Ich sah etwas, was ich zuvor für unmöglich gehalten hatte. Nach all dem was sie erneut durchleben musste, lächelte sie. Und auch wenn sie kein schönes Lächeln besaß, da aufgrund der langen Zeit, sich nur noch wenige, schwarze Zähne in ihrem Mund befanden, erfüllte es mein Herz, sie das erste Mal glücklich zu sehen.

„Wie sehen sie aus?“ fragte sie mich voller Begeisterung, „ich meine die Dämonen… kannst du sie beschreiben?“

„Nun ja…“, während ich mir meine Antwort überlegte, kratzte ich mir ratlos den Kopf, „Ich selbst durfte bis jetzt noch keinen sehen, doch mein Meister wird dir sicherlich einige Geschichten über sie erzählen können. Er ist in etwa doppelt so alt wie ich und konnte mir deshalb von unzähligen seiner Abenteuer berichten. Doch genau diese solltest du am besten von ihm hören.“

Ich wusste nicht inwiefern ich mich aus meiner brenzligen Situation herausreden konnte. Dennoch schien sie sich mit meiner Antwort zufrieden zu geben.

Juliana begann sich ins Gras zu legen. Ich tat es ihr gleich, während mich nur eine Sorge plagte.

Es war die Sorge, ob Julianas Körper auch außerhalb dieses Waldes überleben könnte. Nur die Blüten des Waldes hatten sie für einen so langen Zeitraum am Leben gehalten. Sie war sogar so leicht, dass sie selbst von meinen geschundenen Armen noch getragen werden konnte. Außerdem hatte sie seit Jahrhunderten keine Nahrung mehr zu sich genommen.

Die komplette Nacht zerbrach ich mir den Kopf darüber, inwiefern sie die Reise unbeschadet überstehen konnte. Am frühen Morgen blieb mir schließlich nur noch ein Ausweg. Ich sah mich gezwungen, alleine zurückzureisen. Mit meinem Meister zusammen, wäre ich in der Lage etwas zu finden, was Juliana auch außerhalb des Waldes am Leben halten könnte.

Meinem Meister wäre es ohnehin ein Leichtes, mit einem einzigen Flammenstoß einen Weg durch das Labyrinth des Waldes zu schaffen.

Meine Füße fühlten sich ungewohnt leicht an, als ich am Morgen des nächsten Tages aufstand. Ich merkte wie gut mir letzten Tage getan hatten. Es war tatsächlich ein schönes Gefühl, ohne große Anstrengung auf zwei Beinen stehen zu können. Wirklich hell war es nicht, wobei dies aufgrund der Wolkendecke nur schwer möglich wäre.

Ich bewegte mich zu Julianas Körper. Sie war eingeschlafen. Ich flüsterte ihren Namen. Als sie meine Stimme vernahm, riss sie ruckartig ihre Augen auf und erwachte mit einem Schrei. Es war ein leiser Schrei, der aufgrund ihres Zustandes jedoch nicht lauter hätte werden können. Vermutlich hatte sie einen Albtraum.

Nachdem sie zu mir aufsah, begann sie unter großer Mühe aufzustehen. Ich half ihr hoch, wobei mir ihre dünnen, schwachen Hände fast entglitten wären. Ich wartete bis ihr Stand einigermaßen gefestigt war. Anschließend begann ich mit ihr zu reden:

„Ich weiß, dass ich dir schon eine Menge zugemutet habe. Dennoch sehe ich mich gezwungen, dich um einen letzten Gefallen zu bitten. Würdest du mit mir kommen hätte dies deinen Tod zur Folge. Momentan kannst du nur in der Nähe des Schlosses überleben. Dein Körper ist noch zu schwach. Ich bitte dich auf mich zu warten. Es wird hoffentlich nicht lange dauern bis mein Meister und ich dich abholen.“ Mit einer erkennbar ängstlichen Stimme beendete ich meine Rede. Ich erwartete Tränen. Auch rechnete ich damit, dass sie sich gegen meinen Vorschlag umentscheiden würde.

Juliana war stumm. Mit neutralem Blick näherte sie sich mir und umarmte mich. Es war das erste Mal, dass mich jemals ein Mensch umarmt hatte. Kurz bevor mich ihre schwachen Arme verließen, flüsterte Juliana mir etwas ins Ohr:

„Bitte beeile dich.“

Vielleicht war es die ungewohnte Freiheit, die sie genoss. Vielleicht war es auch die Tatsache, dass nun all die, die ihr diese Dinge angetan haben, nicht mehr am Leben sind. Wahrscheinlich hatte sie auch selbst erkannt, inwiefern ihr Körper geschwächt war.

Nach einem kurzen Nicken begann ich meine Rückreise. Ein Winken oder Ähnliches hätte das Ganze wie einen Abschied für immer wirken lassen. Doch ich plante bald zurückzukehren.

Nach etwa 40 Metern blickte ich ein letztes Mal zurück. Es heißt, man würde jeden Ort ein weiteres Mal besuchen, wenn man kurz vor seiner Rückreise einen letzten Blick riskiert. Zwischen den vielen Ästen schimmerte die grünliche Farbe, die Julianas Kleid besaß, noch schwach hervor.

Bald schon nahm sich der Wald meiner Selbst an. Zu Beginn blieben die Dornenranken noch an Ort und Stelle, doch nach wenigen Stunden erkannte ich in ihnen die ersten Bewegungen. Abermals war der Wald erwacht. Seine Bewegung war trotz Allem keineswegs von aggressiver Natur. Vielmehr schienen sich die Ranken und Äste meinem Antlitz zu beugen und meinem Weg zu entschwinden.

Dies hielt nicht nur Stunden sondern sogar Tage an. Schlaf kam dennoch nicht in Frage, da er mich schon einmal in eine fast aussichtslose Situation geritten hatte. Stattdessen biss ich die Zähne zusammen und versuchte mit allen Mitteln wach zu bleiben, auch wenn der Weg nach fast einer Woche nicht abgeschlossen war.

Während ich mich nur durch Magie wach hielt, fragte ich mich, weshalb sich der Wald in der Zeit so weit ausgebreitet hatte.

Ich wusste nicht einmal, wie viel Zeit verstrichen war, seitdem ich mich einst aufmachte um mich dem Schloss und dessen Fluch zu stellen. Sind in der Zeit Jahre vergangen ?

Doch selbst nach Jahrhunderten hatte sich dieser Wald nicht in solchem Maße ausgebreitet.

Als ich mich einer Ranke näherte, versuchte ich sie zu berühren. Auch wenn sie sich versuchte von mir zu entfernen, geschah dies zu langsam. Ich schnitt einen meiner Finger absichtlich an den Dornen der Ranke. Ich empfand nichts. Ich riss einen der längsten Dornen ab und durchbohrte damit meinen Finger. Auch in diesem Fall schmerzte mein Finger nicht. Und als ich panisch mit aller Kraft meinen Arm gegen einen Baum schmetterte und ihn so brach, entgegnete mir mein Körper nicht einmal in Ansätzen von Schmerzen. Mir war zwar bewusst, dass aufgrund meines Zustandes das Schmerzempfinden stark eingeschränkt war. Doch solche Ausmaße waren einfach unmöglich. Selbst als ich mich einst in der Traumwelt befand, die der Wald für mich erschuf, konnte ich Schmerzen empfinden.

Letztendlich bohrte sich eine finale Frage in meinen Kopf, die alle bisherigen verdrängte:

„Ist das, was ich im Augenblick erlebe, Traum oder Realität?“

Hier geht es zur Fortsetzung ( Teil 2 ) >> Zorn des Waldes

Lizenz: CC-BY-SA. Diese Gruselgeschichte wurde geschrieben von: Coffeejunkie34 von creepypasta.fandom.com
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